Sage ich Obstwiese, rollt er mit den Augen. Will ich wirklich hin, muss ich alleine gehen. Bin ich einmal dort, vergesse ich ihn.
Die Obstwiese ist mein persönliches Paradies. Egal, ob es Winter oder Sommer ist. Obwohl, Frühling und Herbst sind meine Favoriten, denn da platzt das phänomenologische Füllhorn. Das Wetter wiederum ist egal, denn jedes Wetter ist gut. Gut für den atmosphärischen Gesamteindruck. Die Wiese bietet alles, was ich verarbeiten und verkraften kann. Sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinn.
Ich verarbeite die Kräuter und das Obst, die Beeren, Blüten und Nüsse. Ich verkrafte das unheimliche Rauschen des Windes, das laute Knacken im nahen Wald und die blutigen Kratzer der Dornen. Ich verarbeite das Summen der Bienen und das dunkle Grün der Tannen im Traum, wenn ich mich pelzig bepackt in den Wipfeln wiege. Ich verkrafte den Abschied genau so lange bis zum nächsten Wiedersehen.
Was wäre ich, wenn ich eine Pflanze wäre? Eine Pflaumenartige, eine Schlehe.
Als Schlehe bin ich eine Wurzelkriecherin. Ich treibe Schösslinge zu stacheligen Hecken. Habe ich mich verwurzelt, kann mit meiner Wurzelbrut ein gewaltiges Gestrüpp wachsen. Um mich herum gedeiht krautige Vegetation und eingezwängt in steinige Hänge wirke ich krüppelig gebeugt. Ist mir doch egal, wie ich aussehe.
Ich stehe im Gras. Unter dem Gras sind die Erdschollen, aufgewühlt von den nächtlichen Streifzügen der Schweine. Tagsüber bedecken Halme die Scharten und ich stolpere wie trunken über die Wiese. Mein Taumeln ruft viele Lacher aufs Feld. Die Schadenfreude führt eine ganze Gruppe lustiger Gesell*innen an: Fröhlichkeit blinzelt mir zu, Ausgelassenheit lacht aus vollem Halse und rempelt dem Frohsinn ungestüm in die Seite. Im Schlepptau haben sie außerdem Albernheit, Entzücken, Begeisterung, Selbstvergessenheit, Lebenslust, Vergnügen und mittendrin erhasche ich einen Blick auf das Glück, das sich nur selten zeigt.
Manchmal kommt ein Jäger. Der guckt mich düster an und stiefelt dann ins Dickicht. Seine Gedanken hinken hinter ihm her: Was macht die hier? Wieso steht sie allein auf der Wiese herum? Meine Gefühle sieht er nicht. Seine eigenen hängen wie Gewitterwolken über ihm. Wenn das Gehirn einmal gewohnt ist, Gefühle aufzuspüren, dann wird es richtig gut darin. Wie ein Spürhund.
Wieder zu Hause fragt er, wo warst du so lange, auch wenn er die Antwort weiß. Er sieht das Abenteuer in meinen Augen und kann es nicht deuten. Aber er isst den Apfel, den ich ihm gebe. Sagt, seine Schale ist hart.
Ich mache Mus daraus.
Sehr schöner Text, wunderbar eingefangen diese doch so mögliche/machbare Verbindung von Mensch und Natur. Ganz herzliche Wintersonnengrüße!
LikeLiked by 2 people
Danke und auch eiskalte Grüße zurück 🌨❄️⛄️
LikeLiked by 1 person
Feiner Text. Du Adoptivkind der Obstwiese :-) Zumindest eine Anverwandlung der Eigenarten dieser Wiese scheint möglich.
Gruß
Achim
LikeLiked by 2 people
Diese Wiesen und andere Orte sind alle von der Art „ich sehe was was du nicht siehst“, LG
LikeLiked by 1 person
Feiner, pantheistisch angehauchter Text zu Ehren von Mutter Allnatur,
sehr fein, Peggi…
LG vom Lu
LikeLiked by 1 person
Dankeschön und LG zurück
LikeLiked by 1 person
🌟
LikeLike
Ich bin nicht so gut in Botanik – aber ich glaube, ich habe am Sonntag schon kleine Blüten an Schlehen gesehen. Kann das sein ? Bist du aufgeblüht ?
Schöne Grüße Elisabeth
LikeLiked by 1 person
Ja, stimmt. Schlehen blühen sehr früh und sind damit oft die Ersten. 😊 LG
LikeLiked by 1 person