Nachhinein

Auge blaue Iris gezeichnet

Im Nachhinein sehe ich eine Bürde auf seinen Schultern und einen getrübten Blick. Ein mattes Grau auf seiner Haut. Im Nachhinein merke ich, dass ich sie gesehen habe. Sie geben keinen Anlass zur Sorge. Nicht in diesem Alltag, in dem ich mit ihm auf Distanz bin. In einer Atmosphäre von Achtsamkeit bleibe ich ahnungslos, denn die Sinne konzentrieren sich nicht auf ihn. Wie ich ist er ein Teil des Apparats. Freundlich, hilfsbereit, anders.

Im Nachhinein sehe ich seinen schweren Schritt. Eine Eigenheit, die ihn in den Gängen erkennbar macht. Das Gewicht ist nicht das seiner Gestalt. Mein Gehirn baut Geschichten. Es gibt für mich nichts zu erklären.

Der Andere ist immer unendlich anders als ich selbst. Die Annäherung an ihn wächst über meine Beobachtung. Er ist anwesend und wir verbringen gemeinsam Zeit in einem Raum. Im Raum sind Reden, Gesten und Geduld. Ein Austausch von kurzen Augenblicken. Im Raum sind viele Andere. Alle könnten diese dunklen Gedanken in sich tragen. Sie nehmen sie mit nach Hause und am nächsten Tag bringen sie sie wieder mit. Wenn sie wiederkommen.

Es ist keine spontane Entscheidung, nicht wiederzukommen. Sie baut sich auf. Sie beginnt mit einer Enttäuschung oder einer Entbehrung oder etwas ganz anderem. Sie führt auf einen Weg, der ständig bergab führt. Wie ein Tropfen, der durch winzige Steinritzen sickert. Das Wasser rinnt in kleine Tümpel, tiefer und tiefer. Manchmal quillt es als Quelle wieder ans Licht, manchmal verschwindet es für immer in der Tiefe. Verdampft. Vertrocknet. Verschwindet. Das Hinab ist nur ein Bild. Ein Bild, das leicht zu deuten ist. Vielleicht geht der Weg auch bergauf, immer höher, bis er endet und nur noch Wolken sind und eisige Luft. Auflösung im Nichts ist unten und oben. Dazwischen scheint es nichts zu geben, was hält. Auch ein Nichts. Kaum einer, der über dieses Nichts nicht schon nachgedacht hat. Manche glauben, nach dem Nichts kommt noch etwas. Die Ewigkeit. Ich glaube, die Ewigkeit ist immer, auch jetzt.

Im Nachhinein schenkt mir mein Gedächtnis ein paar Szenen des Zusammenseins. Eine Erinnerung reiht sich an die andere. An den Anderen, den ich nicht weiter kennen werde.

Obstwiese

Sage ich Obstwiese, rollt er mit den Augen. Will ich wirklich hin, muss ich alleine gehen. Bin ich einmal dort, vergesse ich ihn.

Die Obstwiese ist mein persönliches Paradies. Egal, ob es Winter oder Sommer ist. Obwohl, Frühling und Herbst sind meine Favoriten, denn da platzt das phänomenologische Füllhorn. Das Wetter wiederum ist egal, denn jedes Wetter ist gut. Gut für den atmosphärischen Gesamteindruck. Die Wiese bietet alles, was ich verarbeiten und verkraften kann. Sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinn.

Ich verarbeite die Kräuter und das Obst, die Beeren, Blüten und Nüsse. Ich verkrafte das unheimliche Rauschen des Windes, das laute Knacken im nahen Wald und die blutigen Kratzer der Dornen. Ich verarbeite das Summen der Bienen und das dunkle Grün der Tannen im Traum, wenn ich mich pelzig bepackt in den Wipfeln wiege. Ich verkrafte den Abschied genau so lange bis zum nächsten Wiedersehen.

Was wäre ich, wenn ich eine Pflanze wäre? Eine Pflaumenartige, eine Schlehe.

Als Schlehe bin ich eine Wurzelkriecherin. Ich treibe Schösslinge zu stacheligen Hecken. Habe ich mich verwurzelt, kann mit meiner Wurzelbrut ein gewaltiges Gestrüpp wachsen. Um mich herum gedeiht krautige Vegetation und eingezwängt in steinige Hänge wirke ich krüppelig gebeugt. Ist mir doch egal, wie ich aussehe.

Ich stehe im Gras. Unter dem Gras sind die Erdschollen, aufgewühlt von den nächtlichen Streifzügen der Schweine. Tagsüber bedecken Halme die Scharten und ich stolpere wie trunken über die Wiese. Mein Taumeln ruft viele Lacher aufs Feld. Die Schadenfreude führt eine ganze Gruppe lustiger Gesell*innen an: Fröhlichkeit blinzelt mir zu, Ausgelassenheit lacht aus vollem Halse und rempelt dem Frohsinn ungestüm in die Seite. Im Schlepptau haben sie außerdem Albernheit, Entzücken, Begeisterung, Selbstvergessenheit, Lebenslust, Vergnügen und mittendrin erhasche ich einen Blick auf das Glück, das sich nur selten zeigt.

Manchmal kommt ein Jäger. Der guckt mich düster an und stiefelt dann ins Dickicht. Seine Gedanken hinken hinter ihm her: Was macht die hier? Wieso steht sie allein auf der Wiese herum? Meine Gefühle sieht er nicht. Seine eigenen hängen wie Gewitterwolken über ihm. Wenn das Gehirn einmal gewohnt ist, Gefühle aufzuspüren, dann wird es richtig gut darin. Wie ein Spürhund.

Wieder zu Hause fragt er, wo warst du so lange, auch wenn er die Antwort weiß. Er sieht das Abenteuer in meinen Augen und kann es nicht deuten. Aber er isst den Apfel, den ich ihm gebe. Sagt, seine Schale ist hart.

Ich mache Mus daraus.

Weißer Reiher

Eine kleine weiße Regung auf einer großen grünen Wiese – so nehme ich den Reiher wahr. Im Vorbeifahren hellt er mein Blickfeld auf. Und mein Gemüt, denn mein Gehirn schickt mir Glück. Das Gefieder findet sein Gefallen, weil das Weiße ist positiv programmiert. Schnee und Schwan. Weiße Wäsche, Federwolken.

Dass der Vogel ein Reiher ist, weiß ich nur, weil ich ihn jetzt schon mehrere Male gesehen habe. Kein Storch oder so. Er ist nicht immer auf dieser Wiese. Hier am Fluss gibt es viele Wiesen. Ich stiere auf seinen einbeinigen Stand und warte, dass er sich bewegt. Er regt sich nicht. Ich dagegen bewege mich schnell an ihm vorbei, fahre auf der Straße und schaue wie alle anderen auf den weißen Fleck.

Vielleicht macht sich jemand einen Spaß. Stellt einen Plastikreiher ins Gras, versteckt sich hinter den Bäumen und feixt. Bauscht eine flüchtige Erfahrung zu einer Geschichte wie dieser auf. Zwingt den Reiher in meine Gedanken und in meine Träume.

Im Traum sagt der Reiher: „Hey, schreib was Nettes über mich.“ Was soll ich schreiben, ich weiß nichts über Reiher. Ich glaube, wenn er da in der Wiese steht, wartet er auf Spezifisches. Das Spezifische manifestiert sich in Fröschen und Kröten. „Da haben wir etwas gemeinsam“, meint der Reiher. Stimmt, denke ich, auch ich warte auf Kröten. Er steht den ganzen Tag auf einem Bein. Ich reiße mir ein Bein aus.

Der Reiher sagt: „Willst du irgendwas erringen, lern vom Reiher mancherlei, und Geduld vor allen Dingen, bestens dir empfohlen sei.“* Der Reiher geht mir auf die Nerven. Gedichte mit Geduld drin kann ich nicht leiden. Weiß der Geier wie der Reiher mit dieser Eigenschaft gedeiht. Fängt er so eine Echse? Legt ein Ei oder zwei? Bringt wilde Reiherkinder zum Schweigen? Mit Geduld?

Der weiße Reiher bewegt sich nicht. Kein Wind weht durch sein Kleid. Stoisch nimmt er zur Kenntnis, dass ich nix Nettes über ihn schreibe, sondern an seiner Weisheit zweifle. Beziehungsweise, dass seine Weisheit nicht meine ist. Muss ja auch nicht, denkt er wahrscheinlich.

*aus: Der Reiher, August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798-1874)

Die Königin der Ananas ist ein Apfel

Ananasrenette historische Zeichnung und Querschnitt

Im Raum rieche ich Ananas. Habe keine gekauft schnelldenkt mein Hirn. Der Blick fällt auf das Fallobst. Eine Schale mit goldgelben Äpfeln steht auf dem Tisch. Der Duft kommt von dort. Selten habe ich eine Ananas so intensiv gerochen wie diese Äpfel. Ich nehme die Schale und trage sie durchs Haus wie eine Kostbarkeit. Danach duften sie immer noch.

Wäre ich früher geboren, wäre ich entzückt. Die kleinen Äpfelchen, kaum größer als eine Kinderfaust, muten an wie eine seltene Art der Begegnung. Begleitet von einem Lächeln im Gesicht. Ich lese sie aus dem hohen Gras und probiere zum Spaß einen winzigen Biss. Meine Geschmacksknospen erwachen aus ihrer Genügsamkeit und senden wilde Signale: Aroma-Alarm! Fruchtig. Süßsauer. Dicht. Knackig. Edel. Ein klitzekleiner Apfel mit einer Konzentration an Aroma, dass es mir vorkommt, als wäre jeder Apfel davor nur ein Schatten seiner Art.

Nein, sie schmecken nicht wie Ananas, sie duften nur so. Da hat jemand die Äpfel erst mit nach Hause genommen, sie ins Warme gelegt und sie dann Ananasrenetten genannt. Hat sie dann zu einem guten Wirtschaftsapfel gezüchtet und sie ins Rheinland verfrachtet, wo ich sie im 21. Jahrhundert zum ersten Mal rieche. Rein optisch würden sie im Supermarkt nicht einmal als Apfel durchgehen. Die Kühlung würde außerdem den Duft unterbinden.

Pomona, die Göttin der Gartenfrüchte, hat sich einen dezenten Scherz erlaubt. Sie hat in den Obstkorb der nördlichen Hemisphäre eine olfaktorische Sehnsucht nach dem Süden geschmuggelt. Der Ananasrenettenbaum ist wie seine Früchte eine zierliche Erscheinung, unscheinbar. Wer sie einmal kostet, wird sie nie wieder vergessen, weil dieses Geruchs- und Geschmackserlebnis eine Schneise ins Gehirn brennt.

Alle Apfelexperten lachen jetzt. Sie umgeben sich wahrscheinlich seit Jahren mit dieser wunderbaren Frucht und ihre Häuser duften im Herbst nach Ananas, dass es eine Freude ist.

Schockolade

Schokoriegel mit weisser Fuellung

Mein Blackout ist nicht schwarz. Er ist transparent wie Wassereis. Eine kurze Zeitspanne wird mit Klarlack fixiert.

Während mein Bewusstsein ins Off geht, tropft mein Blut auf den Boden. Ein kleiner roter See, manche würden Pfütze sagen oder Lache. Blutlache. Das Blut fließt aus meinem Finger. In einem unaufmerksamen Augenblick steckt er in der Klemme, dann bricht er auf. Zu wenig Platz für die Knochen, das Fleisch, die Sehnen und die Venen.

Der Schmerz ist nicht schlimm. Doch sobald es in meinen Ohren summt, muss ich einen Ort finden, der tauglich für die Ohnmacht ist.

Eine Ohnmacht in der Öffentlichkeit ist nicht, was ich will. Aber der Wille hat keine Macht mehr. Mein neuronales System übernimmt die Regie. Ich sinke auf einen Sitz. Transparenz macht sich breit. Der Moment ist schnell wie das Licht. Ich erfasse ihn erst, als er vorbei ist und mein starrer Blick wieder an Fokus gewinnt. Aus dem Schlaf erwachen ist anders. Es gibt das sanfte Erwachen nach einer erholsamen Nacht oder das gemächliche Wachwerden an einem Sonntag oder das abrupte vom Alarm Aus-dem-Schlaf-gerissen-werden. Nichts ist wie der kristalline Wiedereintritt in das Bewusstsein nach dem Blackout. Wie viel Zeit ist vergangen?

Dreißig Sekunden. Dreißig Sekunden sind nur eine Schätzung. Wie eine lautlose Lawine rollen sie über mich. Es könnten auch drei Minuten sein, woher soll ich das wissen? Niemand stoppt die Zeit meiner Ohnmacht. Würde ich woanders aufwachen als wo ich weggeknickt bin … in einer Wüste zum Beispiel … ich hätte nicht den geringsten Anhaltspunkt, wie lange ich dorthin gebraucht hätte. Ganz zu schweigen vom Wie.

So spannend es wäre, mehr über das verlorene Momentum zu erfahren – es entzieht sich konsequent der Beschreibung und präsentiert sich als nichts, leer. Diese Leere ist angenehme Leichtigkeit, doch das ist eine Lüge. So erscheint sie mir danach. Eine sensitive Lücke. Ein sanfter Rausschmiss aus der Routine. Die Befreiung aus einer banalen Blutung.

Wieder wach, schaue ich auf die Lache. Sie ist versickert. Das Blut stockt, die Wunde pocht. Bandagiert ist sie geradezu lächerlich klein und bietet nicht den geringsten Anhaltspunkt für das, was sie ausgelöst hat. Nach dem Schock ist Schokolade gut. Ich beiße in den Riegel.