Mutige Mädchen  

Der Zufall, falls es ihn gibt oder die banale Koinzidenz lenken meine Aufmerksamkeit auf die Mädchen in meiner derzeitigen Lektüre. Sie sind auf ihre Art alle starke Figuren, manche beeindrucken mich mächtig.

Das sind die Mädchen und die Bücher:

  • Julia Turtle Alveston Kibble: My absolute Darling, Gabriel Tallent, New York 2017
  • Mariye Akikawa: Killing Commendatore, Haruki Murakami, London 2019
  • Isabelle Rossignol: The Nightingale, Kristin Hannah, New York 2015
  • Catherine Danielle Clark Kya: Delia Owens Where the Crawdads Sing, New York 2019

Mariye Akikawa ist 13 und sitzt Modell für einen Portraitmaler. Der Maler hat sich für einige Monate in einem Haus in den Hügeln vor Tokio verschanzt. Einsam, auf einem Berg, im Haus des berühmten japanischen Künstlers Tomohiko Amada, nimmt er Abschied von seinem konventionellen Stil der Portraitmalerei. Umgeben von mystischen Ereignissen findet er eine neue Art zu malen. Sein erster Auftraggeber ist begeistert. Er fädelt den nächsten Auftrag ein: Der Maler soll Mariye malen, von der er glaubt, dass sie seine Tochter sein könnte, die aber keine Ahnung hat. Mariye spürt intuitiv die Hintergründe, die sie nicht kennt. Jedoch sie schweigt. Mit großer Konzentration sitzt sie Modell. Maler und Mariye bauen eine freundschaftliche Beziehung auf. Heimlich besucht sie den Maler. Ihre Unterhaltungen plätschern wie ein klarer Bach. Mariye ist ernst. Andererseits ist sie ein typischer Teenager, der sich viele Gedanken darüber macht, ob ihre Brüste bald größer werden.

Turtle Alveston ist 13 und lebt als einzige Tochter bei ihrem Vater Martin, der sie regelmäßig vergewaltigt. Ihr heruntergekommenes Haus in den Küstenwäldern Nordkaliforniens liegt abseits der Straße. Turtle, mit richtigem Namen Julia und von ihrem Vater Kibble genannt, kann perfekt mit Waffen umgehen. Sie lernt von Martin, sich auf einen Hinterhalt vorzubereiten – sie schießt und trifft. Danach zerlegt sie die Gewehre, reinigt, ölt und poliert sie. Sie denkt, man muss sich um Dinge kümmern. Ihr Vater tut das nicht, er zerstört Dinge. Und er zerstört sie. Langsam baut Turtle den Widerstand in sich auf. Sie rüstet sich für den Moment, in dem sie nicht mehr Opfer ist. Als Turtle Jacob kennenlernt, beginnt ihr Leben, einen neuen Verlauf zu nehmen. Aber ihr Vater fordert bedingungslosen Gehorsam – bis er Turtles Grenze überschreitet und sie sich in den Kampf gegen ihn begibt.

Kya Clark ist 11, als ihr Vater sie für immer zurücklässt. Ihr Haus ist eine Hütte im Marschland der Küste North Carolinas, einsam, ohne Wasser und Strom. Ihre Mutter und ihre Geschwister sind schon vor langer Zeit gegangen. Das Mädchen schlägt sich alleine durch, entschlüpft immer wieder den Bemühungen der Sozialarbeiter, sie persönlich zu treffen und mitzunehmen. Einen einzigen Tag geht sie zur Schule. Sie wird von den anderen Kindern beleidigt und gedemütigt. Danach ist sie nur noch in der Marsch: Sie beobachtet Vögel, sammelt Federn und Muscheln. Sie begegnet Tate, einem Jungen aus dem Dorf; er bringt ihr Lesen und Schreiben bei. Mit dem Lesen öffnet sich für Kya eine neue Welt. Sie kann die Natur, die sie umgibt, verstehen, erforschen und klassifizieren. Ihre Marschexponate werden zu wissenschaftlichen Sammlungen, ihre Zeichnungen von Federn, Pflanzen und Tieren geben jedes kleine Detail wieder. Mit 18 wird Kya in einen Todesfall verwickelt, kann sich jedoch daraus befreien. Sie bleibt die sonderbare Einzelgängerin. Nach langer Einsamkeit finden sie und Tate wieder zusammen, sie heiraten und leben als Forscherpaar in der Marsch.

Isabelle Rossignol erlebt mit 18 die Besetzung von Paris durch die Deutschen. Ihr Vater schickt sie nach Süden zu ihrer Schwester. Mit tausenden von Flüchtigen verlässt sie die Stadt, verliert ihre Mitfahrgelegenheit durch einen Bombenangriff und schlägt sich durch bis in das Dorf ihrer Schwester. Isabell und ihre Schwester haben ihre Kindheit in Heimen verbracht. Isabell ist aufmüpfig, vorlaut und verabscheut Konventionen. Sie schließt sich der Resistance an. Nach dem Tod eines Wehrmachtsoffiziers taucht sie unter, führt britische Piloten, die von den Nazis abgeschossen wurden, über die Pyrenäen nach Spanien. Bald ist sie als „Nachtigall“ legendär. Doch gegen Ende des Krieges wird sie gefangen genommen und in ein Konzentrationslager gebracht. Ausgezehrt, krank und fast verhungert erlebt sie die Befreiung Frankreichs und das Ende des Krieges. Kurz darauf stirbt sie.

Im Goldrausch

Der Pflücker tritt aus der Plantage. Er trägt Gummistiefel und einen Apfel. Als er mich im Matsch stehen sieht, kommt er rüber und grüßt. Er wischt mit dem Ärmel über den Apfel, reicht ihn mir und sagt, Goldrush heißt er. Der Mann schaut mich an, dann den Apfel. Er ist goldgelb und macht seinem Namen alle Ehre. Ein bisschen glänzt er, da wo die Jacke ihn gestreift hat. Kleine Punkte bedecken seine Oberfläche wie Patina auf einem alten Stück. Goldrush ist ein Kulturapfel (Malus domestica). Soll ich jetzt hineinbeißen? Das will ich nicht. Ich nehme Goldrush mit nach Hause und warte auf den perfekten Moment ihn zu essen. Das dauert eine Weile, denn mit diesem Apfel verbinde ich so einiges. Dort wo er wächst ist meine Kindheit. Da wo er hängt baumelt meine Seele und die Sehnsucht nach dem Süden. Ich schaue mir Goldrush im Kühlschrank an und an einem unbestimmten Tag ist es soweit. Kein großes Ding. Ist nur ein Apfel mit einer Geschichte.

 

Einmal im Goldrausch, lässt er mich nicht mehr los. Ich stehe wie gebannt vor einem Werk aus Ton. Es hängt im Museum und heißt Idaho Goldrush. Eine goldene Tonkeramik von Otto Piene, 2011. Der Trigger ist der Name, schon klar. Aber auch diese golden glasierte Tafel reißt mich in eine überschäumende Semantik. Ein ganzes Universum tut sich auf mit Otto Piene: Feuer, Ruß, Explosion, Sterne, Licht, Glanz – transferiert in leuchtende Kunst. Es gibt auch Schwärze und erdbraune Krusten. Rote Tiefen. Der Kreis als Symbol für die Unendlichkeit des Raums. Ich stehe vor Idaho Goldrush und der Apfel fällt mir ein. Die beiden haben wenig miteinander zu tun, sie tragen nur den gleichen Namen. Zweimal präsentiert sich mir Goldrausch in kürzester Zeit. Da bleibt etwas Goldstaub haften.

Holzturm, hohl

Weintraube weissAuf dem Weg zur Burg steht ein Holzturm. Von weitem sieht er aus wie ein Aussichtsturm, von nahem eigentlich auch, aber es geht nirgendwo hinein oder hinauf. Ich umkreise den Turm als Suchende, drücke meine Schulter gegen die dicken Bretter. Manche Schranktüren öffnen sich so. Diese hier reagieren nicht. Kein Ein- oder Aufgang, keine Infotafel, was es mit diesem Ding auf sich hat. Ich gehe auf Distanz. Aus fünf Meter Höhe blicken Bullaugen auf mich herab. Ich will jetzt da hoch. Möchte aus diesen Löchern gucken. Sehen was sie sehen. Aber der Weg ist versperrt. Oder von vornherein nicht vorgesehen.

Der Turm macht mich machtlos. Blöde Kiste. Ich spüre die Wut in mir aufsteigen wie schmutziges Wasser in einem Wehr. Wehrlos. Warum? Weil er einfach so steht und nichts verrät. Dann flüstert mein Gehirn: Ist wahrscheinlich Kunst. Ja natürlich, dass ich darauf nicht sofort gekommen bin. Erleichterung zieht den Stöpsel und die Wut fließt ab. Sofort ist die Scham zur Stelle und brennt mir eine Röte ins Gesicht. Ich schäme mich für die Scham und diese Wechselbäder der Gefühle: Wut, Erleichterung, Scham.

Tatsache ist, der Turm ist Kunst und heißt Orbi. Urbi et Orbi. Ein monumentales Holzobjekt gezimmert aus Papstbänken. Was sind Papstbänke? Hat auf all diesem Holz der Herr gekniet? Nein. Auf diesem Holz haben die gesessen, die auf den Papst gewartet haben, als er 2011 in unserem Land war. Die Bänke wurden als Papstbänke unter die Leute gebracht und aus einigen hat der Künstler Marco Schuler den Turm gebaut. Der Corpus ist hohl, die Löcher sind Augen. Sie blicken aus fünf Metern Höhe in jede Himmelsrichtung übers Land. Im Osten schauen sie auf den schwarzen Wald, im Westen auf die Burg, im Süden und Norden auf die goldenen Weinberge.

Inmitten Edler Weinreben (Vitus vinifera subsp. vinifera) thront der Turm. Vorher steht er jahrelang auf einem Berg und umschließt mit seiner grauen Fassade das Gipfelkreuz. In das verwaschene Holz ritzen Leute ihre Namen oder Weisheiten wie „Der Berg ist die Zwischenstation zwischen Himmel und Erde“ oder „Offizielle Kultstätte Bernd das Brot“. Manche finden den Turm besser als das Kreuz. Andere schreiben „Es muss nicht auf jedem Gipfel ein Kreuz stehen“. Das finde ich auch.

Baldachin: Richard Powers Overstory

The Overstory Title Richard Powers

Das Buch „The Overstory“ von Richard Powers zu lesen ist wie in einen Baumwipfel zu klettern: Ich bin hin- und hergerissen zwischen Begeisterung und Bedauern.

Um mein Empfinden auf den neuesten Stand zu bringen, steige ich hoch in die Äste einer Rotbuche (fagus sylvatica): Die Höhe ist berauschend. Unter und über mir schließt sich das Laub. In der Krone ist es fast still. Die grauen Äste sichern meinen Stand. Die Bewegung des Baums ist wie auf einem großen Schiff: ein sachtes Wiegen, kaum wahrnehmbar und doch klammere ich mich an die Astgabel wie bei einem Sturm. Einige Meter vom Boden entfernt und ich bin raus aus meiner Komfortzone. Hier oben ist eine andere Welt.

Begeisterung

Begeistert bin ich von der literarischen Darbietung des Themas Bäume und ihrer Verbindungen zum Rest der Welt. Bisher habe ich dazu nur Sachliteratur gelesen: über die Intelligenz der Pflanzen das gleichnamige Buch von Stefano Mancuso und Alessandra Viola oder die Inhalte von Peter Wohllebens Waldakademie. Ich bin ja keine, die überzeugt werden muss – etwa von der Kommunikation der Blätter über die Luft, den Datenaustausch der Wurzeln über das Wasser oder darüber, welchen Anteil Insekten, Pilze und Tiere am Informationsaustausch haben.

Acht sich mehr und mehr ineinander verwebende Geschichten ziehen sich durch das über 600 Seiten lange Werk. Neun Personen leben darin ihr „normales“ amerikanisches Leben mit den „üblichen“ persönlichen Höhen und Tiefen: Ingenieurin, Kriegsveteran, Wissenschaftlerin, Paar im Vorort, Künstler, Studentin, Psychologe und Programmierer. Alle haben mehr oder weniger eine Beziehung zu einem Baum oder Bäumen. „Normal“ und „üblich“ sind spannend beschriebene Schicksale und Schicksalsschläge. Wie in einem langsam kreisenden Wirbelsturm bewegen sich alle Ereignisse auf die wirbelnde und zerstörerische Mitte zu: Die Abholzung der Baumriesen, die Vernichtung der Bäume durch den Menschen.

Bedauern

„The Overstory“ vervielfacht mein Bedauern in Wut über das System menschlicher Geldgier ohne Rücksicht auf Verluste. Diese Wut glimmt immer wieder auf. Zorn über die Zerstörung der eigenen Lebensgrundlage.

Doch das Bedauern hält sich in Grenzen. Am Ende werden die Wälder wieder stehen, wenn der Mensch schon lange nicht mehr auf der Erde weilt – so der Tenor des Buches. Das ist eine beruhigende Zukunftsaussicht – vor allem, wenn man, wie Powers das in seinen Protagonisten anlegt, daran glaubt, dass Bäume intelligente Persönlichkeiten sind, die rund um die Erde Verbindungen zu ihren Artgenossen pflegen, ihre Samen auf unterschiedlichste Art konservieren, um zu geeigneten Bedingungen auch Jahrtausende später wieder zu neuem Leben zu erwachen.

„The Overstory“ füllt die emotionalen Lücken, die die Fachliteratur bewusst vermeidet. Rührung, Empathie, Bedauern und Wut über die Gefährdung und Ausrottung komplexer natürlicher Systeme wie das der Bäume sind in diesem Buch durch ihre Charaktere verkörpert. Ihre Geschichten sind sympathisch, zum Teil tragisch, aber sie erinnern mich an Menschen, die ich kenne – mit allen Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten.

Warum fühle ich überhaupt Bedauern, frage ich mich? Warum sind mir die Bäume nicht egal? Weil ich auch Teil des Ganzen bin. Ein winziges Teilchen in der erdgeschichtlichen Entwicklung, das um die Zerstörung seiner Lebensgrundlage trauert. Anders kann ich es mir nicht erklären. Bedauern und Wut sind ein guter Antrieb für Veränderung. Auch winzige Teilchen können Veränderungen bewirken: Stichwort Reiskorn.

Overstory

The uppermost layer of foliage in a forest, forming the canopy.

Die oberste Schicht des Laubes in einem Wald, in Form eines Baldachins.

Ich habe „The Overstory“ im Original gelesen und neben dem Lesegenuss viele Pflanzenvokabeln gelernt. Außerdem bin ich beim Stöbern im Internet auf einige Initiativen wie die Save the Redwoods League (seit 1918) und Amazon Watch gestoßen. Das Drama um den Hambacher Forst spielt sich direkt vor meiner Haustür ab.

„Im Laubhimmel“ oder „Baldachin der Erde“ könnte das Buch auf Deutsch heißen. Übersetzt und publiziert wurde es mit dem Titel „Die Wurzeln des Lebens“. Das ist nach meinem Geschmack ein vorschneller Absturz aus den Höhen der Baumriesen – fast so, als würden die Motorsägen schon zu Beginn der Geschichte die Bäume zu Fall bringen.

Richard Powers „The Overstory“ ist Pulitzer Preisträger für Fiction 2019.

Der alte Ast hat mich geschlagen

Reh Kopf schwariweiß

Jahrelang sitze ich auf einem Felsen, auf den abends die Sonne scheint. Der Stein speichert die Wärme und gibt sie an mich ab. Durch das Gestrüpp blicke ich in die Gegend. Vögel zwitschern, Wind rauscht durch die Bäume, Flugzeuge ziehen weiße Fäden durch den Himmel. Mein erstes Idyll.

Über die Jahre folgen weitere, temporär verklärte Idyllen. Beim Gegenwärtigen ist die Hangneigung nicht mehr so steil, das Gelände offen und die Geräusche sind nicht so ganz wie ich sie mag. Motorenlärm aus dem Tal und aus der Luft. Trotzdem finde ich mich ein. Es ist ein gefährlicher Ort. Eine Wiese mit Bäumen und Wald drum herum. Klingt harmlos. Die Gefahr ist nicht unmittelbar. Sie zieht als Möglichkeit über die Wiese; macht Schatten zu schwarzen Gestalten, das Wippen der Wipfel zu dunklem Gewand und das Zwitschern der Vögel zu verschlüsselten Pfiffen. Ich stehe wie ein Reh. Alle Sinne auf hab Acht vor Räubern.

Rascheln und Knacken schrecken mich auf. Ich stolpere über einen alten Ast und falle auf den Rücken. Mein Atem stockt, ein Schmerz zuckt. Mit verschleiertem Blick schaue ich in den Himmel. Hier liege ich auf der Wiese wie ein Käfer in seinem Panzer und rühre mich nicht aus Angst vor dem nächsten Schmerz. Ich spüre, wie sich eine Ohnmacht anschleicht. Mein blutleeres Gehirn kündet einen Blackout an. Das will ich aber nicht und zwinge meine Beine aus der Starre. Strecke sie hoch in die Luft. Das Blut fließt zurück.

Nach einer Weile stehe ich auf. Der Rücken schmerzt. Aber ich kann gehen. Ob ich ohne Ohnmacht war, weiß ich nicht mehr. Eine kleine Erinnerung an ein Liegen auf der Wiese. Grasabdrücke auf meiner Haut. Ameisen auf den Schuhen. Meine Augen auf den blauen Himmel gerichtet. Eine Lücke in der Zeit. Egal, ich laufe. Der alte Ast hat mich geschlagen. Noch Wochen später ächzen meine Knochen. Ein schwächer werdender Nachhall. Abgespeichert als Unfall. Gescholten als Unachtsamkeit. Verschmerzt als Vorfall in einer Reihe von Vorfällen. Das Habacht funktioniert nicht immer und auf allen Kanälen. Es gibt Funklöcher und Sonnenwinde und dann falle ich schon mal. Dem Idyll in den Schoß oder einfach auf die Schnauze.