Am Ziel vorbei

Ambivalenz Substanz

Verflixt. Immer diese Ambivalenz. Ich sehe sie wie eine Armbrust schwer auf einer Schulter liegen. Sie ist die Waffe der Unentschlossenen. Schwer zu ertragen. Sieht aber elegant aus und macht mächtig Eindruck. Ihr Pfeil geht auf keinen Fall ins Ziel, sondern irgendwo in den Randbereich der Scheibe. Dorthin, wo andere nicht hintreffen wollen. Wo aber vor lauter Treffern das Stroh herausquillt.

Auf die Gefahr der Schwarzweißmalerei gehöre ich explizit zu den Entschiedenen. Meine Meinung schweben zu lassen, wäre viel zu anstrengend. Das Hin und Her würde in meinem Kopf schwanken wie ein ausgeleierter Wetterhahn auf einer Kirchturmspitze. Quietschend drehte ich mich mit jedem Windstoß um eine Ambivalenz. Wäre mein Gehirn aus Knochen, knackte es wie steife Halswirbel.

Undenkbar, bei einer Abstimmung zu den Enthaltsamen zu gehören. Davon abgesehen, dass ich diese Kategorie gar nicht nachvollziehen kann, ist Enthaltsamkeit sowie keine meiner Tugenden. Abstimmen heißt ja oder nein. Nicht vielleicht und auch nicht sowohl als auch. Entweder oder. Mit Ambivalenz im Gepäck kann ich nicht abstimmen. Für dieses Ja brauche ich eine Menge an Informationen und Hintergrundmaterial. Für das Nein auch. Was mache ich also den Großteil meiner Zeit? Recherchieren. Leute fragen, die auch nicht ambivalent angehaucht sind.

So in Rage geschrieben, wird die fast adelig anmutende Ambivalenz immer absurder. Ich weiß, dass das eine kulturelle Denktradition ist. In Japan ist das anders. Dort trägt die intellektuelle Ambivalenz ein Alltagskleid. Aber hier bei uns ist sie höchstens affektiv. Darf psychologisch den Gefühlshaushalt in gegenläufige Strömungen lenken. Womit ich wieder bei Wirbeln wäre.

Nein, behauptet mein Gehirn, du kannst nicht gegen Ambivalenz sein. Das wäre so, als wärst du gegen Stubenfliegen. Einfach lächerlich. Wo hat es diesen altmodischen Begriff ausgekramt? Stubenfliege. Es lädt mir ein inneres Bild hoch: Eine große Versammlung, in der die vorsitzende Staatsanwältin ein Plädoyer für die Stubenfliege hält. Stube und Fliege gehören zusammen, auch wenn sie sich grundsätzlich widersprechen. Diese Ambivalenz müssen wir aushalten. Wir dürfen sie nicht aufspalten. Sie sind kein Atom.

Wäre Ambivalenz ein Paralleluniversum, könnte ich an sie aberglauben. Ist sie aber nicht. Weder im Allgemeinen noch im Prägnanten.

7 thoughts on “Am Ziel vorbei

  1. Mir aus der Seele gesprochen. Kann mich noch daran erinnern, wie dieses Wort im akademischen Kreis aufkam, plötzlich war alles und jedes “ambivalent”, in den 90ern glaube ich, und ich dachte: Was zum Teufel …! Meinen herzlichen Dank!

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  2. Oh, das freut mich, eine Gleichgesinnung. Die Ambivalenten nennen es “extrem”, wenn ich eine Meinung vertrete und nicht selten fühle ich mich schuldig oder unreflektiert. Eine Nicht-Haltung anzustreben war jedoch nie mein Bestreben. ;-)

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  3. Zu der Enthaltung bei einer Wahl fällt mir ein: Sie bedeutet möglicherweise nicht sowohl als auch oder so, sondern “falsche Frage”. In einem solchen Fall finde ich Enthaltungen durchaus vernünftig. Und: Wer älter wird, merkt, wie Positionen auch schwanken können. Vielleicht nicht die Werte, auf denen man sein Leben baut. Aber doch Einschätzungen. Deshalb kann ich mir unter Ambivalenz mehr vorstellen, als keine Entscheidung treffen zu wollen. Aber ich weiß, dass die Suche nach einer Haltung meist einen entschiedenen Kopf verlangt, der sich orientieren will und gleichzeitig nach Antworten und guten Lösungen sucht. Das ist mir mehr als sympathisch.

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