Zeitfenster

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Das schwere Herz wird nicht durch Worte leicht (Schiller, Wilhelm Tell)

Hätte ich ihr bloß nicht mein Herz ausgeschüttet. Nicht geredet wie ein Wasserfall und mich von sanften braunen Augen in Sicherheit wiegen lassen. Das war ein Fehler. Falsches Thema, falsche Person, falsche Umgebung. Die ganze Konstellation ist am Kippen.

Konstellationen neigen dazu, zu zerfallen. Sie sind zerbrechliche Zustände, Zeitfenster. So ein Zeitfenster ist eine Gelegenheit zum Nichtstun. Meistens tue ich nicht nichts, sondern viel zu viel für so ein relativ kleines Fenster. So wie ich zu viel Wäsche in die Maschine stopfe, baue ich komplexe Konstellationen auf. Aus Worthülsen, Satzfetzen, Sprachstilen und rhetorischen Figuren. Viel zu viel Zeug. So eine Konstellation ist kaum zu ertragen. Sie tut so, als wäre sie manifest, dabei ist sie nur auf Sand gebaut. Stürzt schnell zusammen. Konstellationen sind keine auf Dauer errichteten Konstruktionen.

Bedauern quillt wie Brei in mein Bewusstsein. Erste Beschwerden über die brutale Wortwahl. Zurücknehmen geht nicht, Bedauern schon. Bedauern hat eine Komponente der Gemeinsamkeit und ist in der Lage, eine alte Konstellation mit einer neuen zu ersetzen. Bedauern begünstigt die Leichtbauweise der Lebenslustigen. Sich von deren Lust und Laune leiten zu lassen – und Luftschlösser zu bauen.

Am Ende fällt mir ein Stein vom Herzen. Ich habe es nur ausgeschüttet, nicht verloren. Gebrochen ist es auch nicht. Es schlägt mir bis zum Hals. Hätte mich diese miese kleine Konstellation in die Klinik gebracht, so stünde auf meinem Krankenblatt: Beim Sturz aus dem Zeitfenster mit einem blauen Auge davongekommen.

Champagner mit Judith Butler

Die Ethik und Politik der Gewaltlosigkeit

Judith Butler live in Köln, das ist ein Fest für mich und meine Freundinnen Anna, Micha und Andi. Mit Hingabe, Lust und Laune wuchten wir unsere performative Geschlechtsidentität in die Aula der Universität und können sie gleich wieder als löchrigen Käse neben uns ablegen. Wir sind dem Butler-Charme ausgeliefert und haben Tränen der Rührung in den Augen ob unserer aller Verletzlichkeit.

Sie wird die „Ikone der Genderforschung“ genannt und festgemacht wird ihr Ruhm an der Infragestellung der binären Geschlechtlichkeit und der herrschenden Heteronormativität. Wir kennen das Leid am eigenen Leib. Wir sind auf Fruchtbarkeit und Empfängnis festgeschrieben, wo wir Lust und Wonne doch ganz woanders empfinden. Naja, so sagt sie, wir arbeiten eben noch an unserem postsouveränen Subjekt.

Butler spricht deutsch, macht sich damit selbst verletzlich und erzeugt eine Atmosphäre der Nähe im Saal der deutschsprachiger Anhänger/innen, die sich auf einen schweren Pokal englischsprachiger Philosophie eingestellt haben und einen munter perlenden Champagner serviert bekommen.

Dabei geht es im Vortrag „Die Ethik und Politik der Gewaltlosigkeit“ um das Leben selbst, den Anspruch auf Unversehrtheit ohne Wenn und Aber. Es geht um Gleichwertigkeit, um die Betrauerbarkeit eines jeden Lebens, ohne definitorische oder kontextuelle Ausnahmen aufgrund von Macht, Gesetz oder Status. Butler sagt, das Konzept von Menschlichkeit fällt je nach Kontext unterschiedlich aus. Ihr Begriff Betrauerbarkeit misst sich an der radikal ungleichen Verteilung dessen, was als betrauerbar angesehen wird.

Judith Butler fordert uns auf, eine aktive Haltung zu kultivieren, den Verlust jeden Lebens zu verhindern. Sie fordert und auf zu kritischer Geduld. Selbsterhaltung ist immer an die Gewaltlosigkeit gegen andere gebunden.

Da vorn am Pult spricht Butler auch mit ihren Händen. Wir lauschen und schauen. Meine Freundinnen und ich sind hingerissen. Berührt. Gerührt, nicht geschüttelt. Aber wir ahnen: Sich diese kritische Geduld zu erarbeiten: leicht wird das nicht.

  • Heute Abend in einem weiteren Vortrag „Verletzlichkeit und Widerstand neu denken“ live oder per livestream zu erleben: Judith Butler in Köln, 19.30 Uhr.

Exen

exen1Mein Freund, der Ex-Banker, sagt Anna ist nicht sein Fall. Anna sagt vice versa und knufft ihn hart am Arm. Einmal zusammen in einer Bar und so was von einer anderen Auffassung von Spaß. Anna lacht und sagt das war´s dann wohl, wir alle nicken und trinken auf den Abschied. Ich kann auch getrennt und dieses Zusammen war nur ein Versuch.

Dafür findet mein Faible für Exen eine Fortsetzung. Dieser Mann mit dem Auto ist ein Ex-Polizist. Hm. Was bedeutet das in diesem Land. Ich kenne nur das Klischee aus dem Kino. Mein Gehirn kreischt: Projektionsfalle! Ich glaube ich bin schon halb eingeklemmt in meinen eigenen Geschichten. Habe mich aber gewundert warum er so systematisch fragt und es für Interesse gehalten. Ist vielleicht nur professionelle Restroutine. Ein Kriminaler also. Er sagt man bleibt es auch wenn man aufhört. Aha. Was bleibt man denn. Nüchtern. Na prima.

exen2Als ich Anna davon erzähle ahnt sie mein Dilemma. Anders als sie habe ich diesen anerzogenen Anstand am Anfang. Gehe nicht aufs Ganze. Hebe mir meine haltlose Heiterkeit auf für wann es passt. Brenne zwar innen schon lichterloh, aber die anderen merken es nicht. Brauche mich dann nur für mich alleine schämen für so viel Vertrauen in den guten Ausgang. Anna sagt schmink dir den ab, der ist ein Beamter. Mit dem wirst du nicht abheben. Der bleibt immer schön auf dem Boden. Wetten der macht nix Illegales, nicht mal ein Bier zur Belohnung, wenn er noch fahren muss. Was für eine Belohnung. Sie hat Recht.

Also schminke ich ab. Pads gegen Make-up und den Mann von der Polizei mit dem Auto. Mein anarchisch gestimmtes Gehirn stimmt einen Jubel an, es hat keine Lust auf diesen Gehorsam. Gesetz. Eine Gratwanderung in Sachen Andersdenkender. Andershandelnder. Andersfühlender. Wen meint es. Mich.

exen3Mit dem Abstand wird mein Blick scharf. Er schneidet meine Sehnsucht in kleine Scheiben und rollt sie zu den Blättern auf die Straße. Dort verwirbeln sie und zerbröseln zu Matsch. Werden wieder Materie für einen neuen Werdegang. Was ist besser. Ein scharfer Blick oder ein unklarer Werdegang. Entscheide mich für Schärfe. Denke an Messer und sonstige Sachen, die nicht ins Spektrum passen. Mein Gehirn macht es mir leicht. Ist doch klar. Es gibt hier nix Gemeinsames. Darauf einen Grappa, Anna, schmeckst du das feine Aroma von fast verfaulten Trauben. Das Andocken des Alkohols an die grauen Zellen, das Stocken der Synapsen, das Aussetzen des Verstands. Genial.

 

Grüne Grenze

Anna staunt. Das sieht lustig aus bei ihr denn sie reißt theatralisch ihre Augen auf und schnappt nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Völlig übertrieben und wahrscheinlich finde nur ich es witzig. Also ich lache jedenfalls weil ich weiß worum es geht. Es gibt hier tatsächlich eine Grüne Grenze und sie ist unbewacht, offen, freizügig nennt man das glaube ich. Sie liegt zufällig auf unserem Weg von der Schweiz zurück ins Heimatland, obwohl Anna ist Halbitalienerin, daher auch ihre Veranlagung zum Pathos.

grüne grenze

Es ist uns ein Rätsel dass wir hier einfach passieren können. Zweihundert Meter weiter ist ein bewachter Zollposten an einem regulären Übergang. Wir blicken auf unsere Einkaufstüten und auf die Uniformierten, die nicht in unsere Richtung schauen. Dann nehmen wir eine übertrieben gelassene Haltung an und laufen einfach drüber. Niemand interessiert sich dafür. Alles Mögliche könnte in unseren Taschen sein aber keiner will es wissen. Tatsache ist dass überhaupt nix drin ist was wir auch annäherungsweise anmelden müssten weil wir nur ein paar Tüten Nudeln und ein paar Tafeln Schokolade gekauft haben. Aber allein der Gedanke.

Anna sagt dass ihr die Schweiz jetzt noch sympathischer ist. Diese Demonstration von Offenheit ohne Ankündigung. Sie möchte gerne zurück, etwas Unerlaubtes kaufen und dann nochmal über die Grüne Grenze. Was denn frage ich. Es ist Samstagnachmittag und fast alles ist zu. Es muss etwas Kleines sein, eine Uhr oder Medikamente, die bei uns verboten sind. Wir müssen lachen weil unsere Fantasie begrenzter ist als die Grenze selbst. So anständig und unbescholten. Wir sind langweilig sage ich. Ja sagt Anna, total.

Die Sache mit der Grünen Grenze nagt an Anna. Ich frage sie was sie hat. Diese blödste aller Fragen. Aber sie antwortet. Sie sagt lass es uns in der Nacht machen. Was machen? Na ja noch einmal über die Grenze gehen und gucken ob jemand da ist. Ich rolle meine Augen, habe keine Lust. Alleine will sie nicht. Der Weg ist nicht beleuchtet, unheimlich zwischen dem dies- und jenseitigen Parkplatz. Keiner da. Auch jetzt nicht. Alles könnte hier rübergetragen werden. Aber niemand geht oder trägt. Keiner kontrolliert. Anna raunt vielleicht überwachen die elektronisch. Mir reicht es. Komm sage ich, hör auf mit dem Agentengequatsche. Gehen wir lieber was trinken.

Nach dem achten Anisschnaps lallt Anna, haha das war irgendwie aufregend auch wenn es nur in unserem Kopf stattfand. In ihrem Kopf denke ich und bin froh dass wir morgen wieder nach Hause fahren und nur von Grünen Grenzen umgeben sind, die wir gar nicht mehr bemerken und die bei Anna keine Aufregung hervorrufen.

Flugversuche

Mein neues Sportgerät ist ein Trampolin. Aus einer spontanen Laune heraus kaufe ich es meinem Nachbarn ab und hüpfe darauf herum. Zehn Minuten kontinuierliches Springen kommen mir vor wie eine Ewigkeit. Vielleicht auch weil die Sprungfedern so quietschen, da müsste mal Öl zwischen. Wenn ich beim Hüpfen die Arme auf- und abschwinge, komme ich mir vor wie ein junger Vogel, der im Nest erste Flugversuche macht. Ich spüre tatsächlich so etwas wie einen Auftrieb, ganz kurz, nur Sekundenbruchteile, aber das macht so Lust aufs Abheben wie es wohl nur Vögel fühlen. Aus welcher Entwicklungsstufe kommt dieser Spaß auf einer elastischen Unterlage zu hüpfen? Wahrscheinlich ist er gar nicht an mein irdisches Dasein geknüpft, sondern ein Relikt aus der Schwerelosigkeit, als ich als munteres Teilchen vom Mars oder Mond unterwegs war und nur zurzeit in diesem Körper stecke, was sich in absehbarer Zeit auch wieder ändern wird.