Déjà-vu_App

dejavu-app blue eyes

Die Déjà-vu Momente mehren sich. Vor einigen Jahren waren es rudimentäre Reste aus Second Life, die mich an etwas erinnerten, was niemals war. Jetzt sind es vage Andeutungen aus der virtuellen Welt. Sie reichen aus, meine Wahrnehmung auf wunderbare Weise mit Altbekanntem zu versorgen. Mein (Lebens-)Gefährte, das Gehirn, mag das Gewohnte. Seine Priorität im Denkprojekt sind Belohnungen. Über die Jahre habe ich vergebens versucht, es zu Höchstleistungen ohne Honorar zu bewegen – doch es hält allen pro bono Bemühungen stand. Also darf es nun App-Ersatzzuckerchen naschen.

Als erstes nehme ich es mit auf einen schneebedeckten Berg. Früher war ich eine begnadete Boarderin. Habe Tiefschnee durchschnitten wie ein warmes Messer weiche Butter. Mein Gehirn erinnert sich: Damals hat es Glückshormone ausgeschüttet. Einige Nanoendorphine hängen immer noch an den Synapsen. Sie blitzen und funkeln und glitzern wie Eiskristalle.

Der Berg ist ein Programm, der Schnee, der Hang, der Wind, die Kälte – alles Programm. Das Programm ist eine App und die App ist auf meinem Telefon und das Telefon ist quer auf meiner Nase. Wie ein kleines Brett vorm Kopf. In einer Plastikhülle mit feinen Extralinsen für die Projektion. Auf dem Gipfel genieße ich den Rundumblick. Zu meinen Füßen liegt knirschender Schnee, die Sonne scheint am Himmel und der Abgrund fällt um mich herum.

Wo dem Programm die Perfektion fehlt, füllt mein Gehirn die Lücken. Kaum kriegt es Zucker, zögert es keine Sekunde. Es möchte, dass ich glaube, was ich ihm vorgaukle. In diesem Paradox sind wir wie Partner: Wir kennen unsere Vorlieben und wir wissen um unsere Schwächen.

Déjà-vu-Apps gibt es wie Sand am Meer. Programmierte Phänomene für einen Pappenstiel.

Der Stegreif

Weißkopf-Seeadlerkopf

Unter den Greifvögeln ist der Stegreif der mit dem größten Stehvermögen. Sind alle anderen wahre Kunst- und Angriffsflieger, reißt der Stegreif seine Beute aus dem Stand. Am liebsten tut er das vor großem Publikum, jedenfalls scheint es so, da er ohne Beachtung gar nicht jagt. Wer begreift schon die Beweggründe eines Greifs?

Rein phänomenologisch betrachtet, hat der Stegreif ständig seine Groupies und die erweiterte Fangemeinde um sich herum. Nachtigallen, Steinbeißer, Spatzen und Zaunkönige zum Beispiel.

Die deutlich kleineren Vögel hängen sozusagen an seinem Schnabel. Süchtig nach Show. Versessen auf Superlative. Sie als Familie zu bezeichnen, ginge zu weit. Nestbau ist nicht des Stegreifs Ding. Im biologischen Sinne zu den Accipitriformes gehörend, zählt er sich am liebsten zu den Endzeitgeiern, die noch keine Aufnahme in die anerkannte Greifvogel-Klassifikation gefunden haben.

Seiner Neigung entsprechend plustert er sich stante pede auf und palavert Greifgeschichten. Er ist richtig gut im Erzählen, herzergreifend romantisch, tieftraurig und schaurig. Zart besaitete Vögelchen fallen ihm ohnmächtig vor die Krallen. Er erlöst sie mit spitzen Biss. Das Blut fließt wie ein roter Teppich von ihm weg. Großspurig schreitet er darauf voran, bis er wieder einen Einfall hat. Er bleibt stehen und beginnt seine heisere Rede. Ruckzuck umringen ihn seine Follower und buhlen um die Gunst seiner Gier.

Accipitri! Accipitri!

Der Stegreif denkt: Die sind ja alle total auf dem falschen Dampfer. Folgen blind ihren Assoziationen, schreien Accipitri! in den Äther und kümmern sich nicht um die Hintergrundrecherche. Mit mir als Greif setzen sie sowas von aufs falsche Pferd. Sie schieben mir ihre Köpfe geradezu in die Schlinge, „ohne lang nachzudenken, unvorbereitet, extemporiert, improvisiert“. Ich brauche nach Greifart nur „aus dem Stand“ zupacken, als hätte ich die Beute „aus der Luft gegriffen“. (Stegreif)

Soll mir recht sein.

Das Richtige tun

Doing the Right Thing

Tu es! schreit mein Gehirn. Oh look, mein Gehirn, das habe ich ja schon lange nicht mehr gehört. Wo warst du? frage ich fast sehnsüchtig. Es war im ontologischen Raum gefangen, hat sinnlose Sinnfragen gestellt und Zeit verschwendet. Zögernd wende ich ein, Zeit kann nicht verschwendet werden, sie vergeht einfach, so oder so. Ich finde es gut, dass die Zeit vergeht. Sie tut es einfach und die Menschen, denen Zeit so wichtig ist, wehklagen und stöhnen ob Ihrer Vergänglichkeit. Ich nicht. Nach meiner Meinung kann Zeit nicht schnell genug vergehen. Schnell durch die irdische Scheiße. Dann wieder reine Materie sein ohne diese falsche Bescheidenheit oder das Charitygedöns gegenüber Flüchtlingen oder Mitleid mit dem Flüchtigen.

Tu was? frage ich zurück. Na das Richtige! blafft es. Ich hatte es glatt vergessen, mein Gehirn. Es ist ja eigentlich das Einzige, das mir widerspricht, oder? Anfangs ärgerlich, dann befriedigt ziehe ich einen Mehrwert aus dem Widerspruch. Mein Gehirn ist kein Ja-Sager. Ich bin wirklich glücklich darüber. So ein kleines widerspenstiges Gekräusel, das sich querstellt, wenn ich denke. Eine virtuelle Geschwulst. Wäre sie echt, hätte ich vielleicht Schmerzen und/oder nicht mehr lange zu leben. Dann würde ich mich damit auseinandersetzen müssen, wie ich es meinen Kindern sage. Das wäre das Schwierigste. Ich könnte ihnen sagen, dass mich der Tod nicht schreckt. Aber das wäre schwer für sie zu verstehen. Sie sind so jung und auch wenn ich nicht alt bin oder mich alt fühle, für mich ist der Tod eine Option. Immer gewesen. Bei allem, was ich tue und wenn mein Gehirn schreit: Tu es nicht! Bei starkem Wind an der Kante eines Abgrunds stehen zum Beispiel.

Tu es! brüllt es jetzt. Ja was denn? gelle ich zurück. Warum geht es so hart mit mir ins Gericht? Was will es von mir? Tu das Richtige! schreit es. Was ist das Richtige? Diese Frage wird mir mein Gehirn nicht beantworten. Es hat ein Stadium erreicht, in dem es die Entscheidungen mir überlässt. Es hat sich emanzipiert. Das weiß ich zu schätzen, denn so ein Reinreden aus Prinzip ist nervig. Immer gewesen. Wenn es sich jetzt so vehement meldet, muss ich tierisch etwas versemmeln. So würde mein Sohn sagen: versemmeln. Versemmeln heißt: Nicht das Richtige tun.

Das Richtige ist greifbar nah. Es steht vor mir und lacht. Es lacht mich aus, weil ich es nicht gleich sehe. Durch es hindurch sehe. Ich sehe durch das Richtige das Falsche. Das Falsche scheint das Richtige, bis das Richtige einen Schritt zur Seite macht und ich das Falsche erkenne. Das Falsche sieht nicht echt aus. Daran erkenne ich es und lasse es links liegen. Dann wende ich mich dem Richtigen zu.

So einfach kann es sein.

Enzo, der Mann mit den gelben Augen

Enzo Rn, der Mann mit den gelben AugenEnzo Rn hat eine gelbe Iris, die im Dunkeln leuchtet. Der Name Rn stammt aus Rumänien und obwohl Enzo klar ist, dass es sich um ein Kürzel handelt, einen Fehler der Einwanderungsbehörde, betreibt er Ahnenforschung. Ein Familie namens Rn findet er nicht. Auch in der um spezifisch auffällige Merkmale erweiterten Suche wird er nicht fündig. Er scheint ein Einzelfall zu sein.

Die Farbe seiner Augen ist nicht ein ins Gelbe changierendes Ocker oder eine gelbliche Note von Grün. Sie ist grell und stechend wie die Sonne selbst, hell und blendend und wenn man hineinsieht, wird man geblendet und kneift die Augen zusammen. Dann zucken hinter den geschlossenen Lidern, die immer noch orange sind und schmerzen, kleine schwarze Punkte wie Verbrennungen umher. Der Anblick, im Freien kaum auszuhalten, wird in geschlossenen Räumen und erst recht bei künstlichem Licht unerträglich.

Enzo trägt getönte Brillengläser. Er versucht auch farbige Kontaktlinsen, aber seine Augen stoßen sie ab wie fremdes Gewebe. Tränen strömen aus den Winkeln und die Wassertropfen wirken wie Prismen, die nur das gelbe Spektrum kennen. Strahlen, wie sie die Herbstsonne durch den Nebel schickt. Mit seiner Sammlung an Sonnenbrillen fühlt sich Enzo wie ein Blinder. Er weiß, dass irgendwann der Moment kommt, in dem sein Gegenüber erwartet, dass er die Brille abnimmt. Ohne den Blick des anderen funktioniert das Miteinander nicht. Daher hat er keine Freunde.

Eine Weile versucht er das Schema die Schöne und das Biest. Im Film gibt es immer Irgendeine, die aller Hässlichkeit, Grausamkeit und Obszönität zum Trotz das Liebenswerte findet. Und einige Male nimmt er die Brille ab, ohne dass die Frau gleich davonläuft. Wie die Schlange vor dem Kaninchen starrt sie ihn an und bewegt sich nicht. Versucht zu lesen was das Gelb will. Kein Gedanke stellt sich ein. Nur Leere, Nichts, das so laut ist, dass es die Worte verschlingt, die Enzo sagt.

Das Problem ist, dass Enzo sich in ihre Träume schleicht und sie dort mit seinen gelben Augen zu Tode erschreckt. Ich weiß das, denn ich bin eine von ihnen. Ich will ihn mit meiner Schönheit blenden und werde bestraft mit einem immer wiederkehrenden Alptraum. In diesem Traum bin ich eine Furie, denn ich bin zornig über diese ständige Wiederholung der Angst. Sobald Enzo in der Nacht erscheint, renne ich auf ihn zu und trommle mit meinen Fäusten an seinen Brustkorb, der sich anfühlt wie eine Eisentür. Die gelben Augen sind ein Magnetfeld, schwarze Löcher, Trichter aus dunkler Materie. Bevor Enzo seinen Blick auf mich richtet, fange ich an zu schreien.

Von meinem eigenen Schrei werde ich wach. Reset.

Farbe Feuer Kraft

DracheDas Fest fängt an und der Mann trinkt. Alkohol mischt sich in seine Sinne. Vor die Augen setzen sich Schleier aus explodierender Luft. Auf seiner Haut brennen Funken. In den Ohren dröhnen Geräusche. Sein Gehirn denkt in Schleifen: Farbe Feuer Kraft, Farbe Feuer Kraft. Aus diesen Worten macht er ein Mantra und die Melodie ihrer Wiederholung bewegt sich wie Wind.

Singend geht er durch Silvester. In der Gegenwart des Neuen Jahres angekommen schwenkt er seine Flasche und geht zum Fluss. Dort brennen in Tonnen Gestänke aus Plastik. Das Ufer ist ein Meer aus Qualm. Was verbrennt ihr hier? Sachen, die kein Glück bringen. Er schaut in die Tonnen und erkennt nix. Alles nur Schmelz. Melasse. Magma. Er torkelt weiter und an einer der Tonnen trifft er mich. Ich stehe hier und tanze. Er singt Farbe Feuer Kraft. Ich höre zu, schaue ihn an und lächle.

Es kann eine Geschichte aus uns werden. Das Uns glimmt noch, würde sich aber zur Flamme verändern. Glaube ich, die ich in dieser Nacht die Zukunft sehe wie ich den Sand an den Füßen spüre. Er müsste mal mehr Wörter sagen. Mehr als Farbe Feuer Kraft. Oder reicht das aus für einen Weg? Wo hat er diese Worte her? Seine Worte erinnern mich an meine: Mut Morgentau Gelegenheit. Darf ich mich vorstellen? Mut Morgentau Gelegenheit. Für diese Nacht reicht das.

Jede/r hat drei Wörter. Die können sich ändern. Von Zeit zu Zeit. Ansonsten stiften sie Ruhe und Stabilität. Den Mann von der Tonne nenne ich FFK. Er ruft mich MMG. Okay, das ist nicht was Poeten tun. Pöbel hätte uns der Adel genannt. Die um die Tonne stehen.

Bei Sonnenaufgang ist das Neue Jahr da. Wie eine Ware wartet es auf Verwertung. Es hat Kleber mit der Aufschrift: Nutze mich! Ein Imperativ zum Jahresanfang. Mir kommt das komisch vor. Ich will lieber eine Gelegenheit ergreifen. Das mit der Zeit ist ja eher Zufall. Kannst du mir folgen, frage ich FFK. Er nickt und folgt mir.