Baldachin: Richard Powers Overstory

The Overstory Title Richard Powers

Das Buch „The Overstory“ von Richard Powers zu lesen ist wie in einen Baumwipfel zu klettern: Ich bin hin- und hergerissen zwischen Begeisterung und Bedauern.

Um mein Empfinden auf den neuesten Stand zu bringen, steige ich hoch in die Äste einer Rotbuche (fagus sylvatica): Die Höhe ist berauschend. Unter und über mir schließt sich das Laub. In der Krone ist es fast still. Die grauen Äste sichern meinen Stand. Die Bewegung des Baums ist wie auf einem großen Schiff: ein sachtes Wiegen, kaum wahrnehmbar und doch klammere ich mich an die Astgabel wie bei einem Sturm. Einige Meter vom Boden entfernt und ich bin raus aus meiner Komfortzone. Hier oben ist eine andere Welt.

Begeisterung

Begeistert bin ich von der literarischen Darbietung des Themas Bäume und ihrer Verbindungen zum Rest der Welt. Bisher habe ich dazu nur Sachliteratur gelesen: über die Intelligenz der Pflanzen das gleichnamige Buch von Stefano Mancuso und Alessandra Viola oder die Inhalte von Peter Wohllebens Waldakademie. Ich bin ja keine, die überzeugt werden muss – etwa von der Kommunikation der Blätter über die Luft, den Datenaustausch der Wurzeln über das Wasser oder darüber, welchen Anteil Insekten, Pilze und Tiere am Informationsaustausch haben.

Acht sich mehr und mehr ineinander verwebende Geschichten ziehen sich durch das über 600 Seiten lange Werk. Neun Personen leben darin ihr „normales“ amerikanisches Leben mit den „üblichen“ persönlichen Höhen und Tiefen: Ingenieurin, Kriegsveteran, Wissenschaftlerin, Paar im Vorort, Künstler, Studentin, Psychologe und Programmierer. Alle haben mehr oder weniger eine Beziehung zu einem Baum oder Bäumen. „Normal“ und „üblich“ sind spannend beschriebene Schicksale und Schicksalsschläge. Wie in einem langsam kreisenden Wirbelsturm bewegen sich alle Ereignisse auf die wirbelnde und zerstörerische Mitte zu: Die Abholzung der Baumriesen, die Vernichtung der Bäume durch den Menschen.

Bedauern

„The Overstory“ vervielfacht mein Bedauern in Wut über das System menschlicher Geldgier ohne Rücksicht auf Verluste. Diese Wut glimmt immer wieder auf. Zorn über die Zerstörung der eigenen Lebensgrundlage.

Doch das Bedauern hält sich in Grenzen. Am Ende werden die Wälder wieder stehen, wenn der Mensch schon lange nicht mehr auf der Erde weilt – so der Tenor des Buches. Das ist eine beruhigende Zukunftsaussicht – vor allem, wenn man, wie Powers das in seinen Protagonisten anlegt, daran glaubt, dass Bäume intelligente Persönlichkeiten sind, die rund um die Erde Verbindungen zu ihren Artgenossen pflegen, ihre Samen auf unterschiedlichste Art konservieren, um zu geeigneten Bedingungen auch Jahrtausende später wieder zu neuem Leben zu erwachen.

„The Overstory“ füllt die emotionalen Lücken, die die Fachliteratur bewusst vermeidet. Rührung, Empathie, Bedauern und Wut über die Gefährdung und Ausrottung komplexer natürlicher Systeme wie das der Bäume sind in diesem Buch durch ihre Charaktere verkörpert. Ihre Geschichten sind sympathisch, zum Teil tragisch, aber sie erinnern mich an Menschen, die ich kenne – mit allen Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten.

Warum fühle ich überhaupt Bedauern, frage ich mich? Warum sind mir die Bäume nicht egal? Weil ich auch Teil des Ganzen bin. Ein winziges Teilchen in der erdgeschichtlichen Entwicklung, das um die Zerstörung seiner Lebensgrundlage trauert. Anders kann ich es mir nicht erklären. Bedauern und Wut sind ein guter Antrieb für Veränderung. Auch winzige Teilchen können Veränderungen bewirken: Stichwort Reiskorn.

Overstory

The uppermost layer of foliage in a forest, forming the canopy.

Die oberste Schicht des Laubes in einem Wald, in Form eines Baldachins.

Ich habe „The Overstory“ im Original gelesen und neben dem Lesegenuss viele Pflanzenvokabeln gelernt. Außerdem bin ich beim Stöbern im Internet auf einige Initiativen wie die Save the Redwoods League (seit 1918) und Amazon Watch gestoßen. Das Drama um den Hambacher Forst spielt sich direkt vor meiner Haustür ab.

„Im Laubhimmel“ oder „Baldachin der Erde“ könnte das Buch auf Deutsch heißen. Übersetzt und publiziert wurde es mit dem Titel „Die Wurzeln des Lebens“. Das ist nach meinem Geschmack ein vorschneller Absturz aus den Höhen der Baumriesen – fast so, als würden die Motorsägen schon zu Beginn der Geschichte die Bäume zu Fall bringen.

Richard Powers „The Overstory“ ist Pulitzer Preisträger für Fiction 2019.

cruel nature II

pfeifenblume

Anna schreit es regnet Schildkröten. Kleine handtellergroße blutige Klumpen klatschen vor ihre Füße. Entsetzt sieht sie nach oben, ihr erstarrter Schritt auf grausigem Pflaster weiß nicht wohin. Platsch! Schon wieder ein zerfetztes Krötengeschoss mit gebrochenem Panzer. Ein heiserer Schrei aus ihrer Kehle. Oben hört sie Krähen krächzen, schwarz hüpfen sie auf den Dachpfannen herum, jonglieren mit ihrer Beute aus dem seichten Teich, werfen sie auf den Asphalt wie sie es mit Walnüssen tun um ihre Schale zu knacken. Dann picken sie das Weiche heraus. Anna steht wie eine Vogelscheuche im Gemetzel und telefoniert. Mit mir. Soll ich die Feuerwehr anrufen. Gibt es keine Parkwacht. Doch und schon fängt sie an zu kreischen dass es mir im Ohr fiept und ich stelle sie mir vor, wie sie mit ihrem schicken Kostüm und ihrer Tasche im Ellenbogen mitten auf dem Platz steht, wild mit den Armen fuchtelt während um sie herum kleine Wasserschildkröten zu Tode stürzen und schwarzes Gefieder flattert.

Später sitzen wir im Parkcafé. Anna kippt nach anachronistischer Damenart einen französischen Cognac für den Schock und ich ihre Freundin trinke mit. Es stimmt. Sie spinnt nicht. Tatsächlich haben die Krähen die teuer nachgekauften Schildkrötenbabies aus dem Teich gefischt und nach alter Manier vom Schlossdach geschleudert. Man sagt sie tun das auch mit neugeborenen Lämmern, wenn der Schäfer oder sein Hund nicht auf der Hut sind. Hier hat niemand damit gerechnet, dass die Raben kommen und die Kröten rauben. Auch der Parkwächter nicht. Die Vögel sind nicht wahnsinnig nur hungrig. Er muss den Dreck wegmachen, weint vor Wut und gleichzeitig würgt Trauer seinen Hals. Die zersplitterten Panzer vergräbt er tief in der Erde.