Das Jahr läuft ab

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Die unmittelbare Nähe zum Fluss ist angefüllt mit Geräuschen und Lärm. Die Dieselmotoren der Schiffe, die Ketten der Kähne beim Ankern, das Scharren der Ruder auf dem Kies, das Kreischen der Möwen, das Brechen der Wellen am Uferbeton, das Dröhnen des Nebenhorns, das Kratzen der Lautsprecher von den Ausflugsdampfern. Das Fließen selbst ist nicht zu hören. Der Fluss des Wassers ist still und mächtig. Die Strömung ist stark und beständig.

Wir stehen am Strand und werfen Steine. Auf jeden Stein spucken wir den bitteren Beigeschmack der vergangenen Tage. Die persönlichen Tragödien, die sich trotz ihrer kurzen Tragweite schmerzhaft in unser Jahr gezwängt haben, ab in den Strom. Die bösen Worte, gehört und gesagt, fort mit euch. Versinkt mit dem Ballast an Beleidigungen und deren Begleiterscheinungen. In den Schlamm mit der Last des Lebens, wo und wann es seine Leichtigkeit verloren hat.

Jedes Jahr stehen wir hier. Manchmal lachen wir, meistens nicht. Wenn wir alle Steine geworfen haben, kommen die Stöckchen dran. Es ist Schwemmholz, das wir im Laufe der Jahreszeiten aufgelesen haben. Glatt und weich liegt es in der Hand, zart gemustert und nicht selten in Tiergestalt. Schlangen, Vögel, Drachen und Krokodile. Wir werfen sie ins Fahrwasser. Sie treiben mit unseren Wünschen ins Meer. Vielleicht bleiben sie auch irgendwo hängen oder werden von anderen Hoffnungsträgern aufgesammelt.

Sind die Lasten versenkt und die Wünsche auf die Reise geschickt, bleibt dieser unbestimmte Rest. Restmüll aus dem Alltag, den wir an Silvester in einer Tonne verbrennen. Wir sind nicht die einzigen mit einer Tonne. Streunende Hunde gesellen sich dazu.

Das Knistern der Feuer, das Winseln der Hunde, das Knallen der Korken, das Fiepen des schmilzenden Plastikmülls und das Knacken brechender Knochen. Zum Lallen des Gelächters steigt schwarzer Rauch in die Luft. Endzeit. Das Jahr läuft ab. Der Fluss fließt fort.

Schiaparelli

Sisters talk about Schiaparelli Mars Lander

„Jetzt hat ESA die neue Marssonde in den Sand gesetzt.“

„Ja, schade. Wo doch gerade so viele Menschen den Schiaparelli-Krater kennen.“

„Der Marsianer ist aber schon weg. Abgeholt von der NASA. Sonst könnte er mal einen Blick auf die Technik werfen.“

„Mark Watney würde das Ding wieder zu Laufen bringen.“

„Davon bin ich überzeugt. Ich hätte gerne einige aktuelle Originalfotos von der Marsoberfläche gesehen.“

„Der rote Sand, die krassen Schatten und die Spuren von längst versiegtem Wasser sind immer wieder faszinierend.“

„Du weißt aber schon, dass Schiaparelli Methan suchen sollte … dem Nachweis von möglichem Leben.“

„Ja, natürlich. Und wahrscheinlich verstecken sich hinter den wissenschaftlichen Interessen auch handfeste wirtschaftliche.“

„Wir sind und bleiben ausbeuterische kolonialistische Wesen.“

„Na ja, zunächst liegt wieder so ein Milliarden-Euro-Teil im Marswind und wird langsam zugestaubt.“

„Es wird weitere Mars-Missionen geben – ich bin gespannt, wer als Erstes seine Flagge in den Boden rammt.“

„Die meisten glauben nach dem Film doch sowieso, dass wir schon lange auf dem Mars gelandet sind.“

„Genau. Was bedeutet schon der Absturz einer unbemannten Sonde?“

„Trotzdem schade. Schiaparelli hätte so schön an die Geschichte angeknüpft.“

„Stimmt. Aber wahrscheinlich produziert Hollywood schon Teil 2 des Marsianers. Ich würde mich freuen, wenn Mark Watney wieder dabei wäre.“

„Ja, ich auch.“

schiaparelli-substanz schema wha went wrong with the mars lander guardian*If you want the whole story, please click the picture.  Thanks to The Guardian.
*Also see The Martian, Andy Weir

Enzo, der Mann mit den gelben Augen

Enzo Rn, der Mann mit den gelben AugenEnzo Rn hat eine gelbe Iris, die im Dunkeln leuchtet. Der Name Rn stammt aus Rumänien und obwohl Enzo klar ist, dass es sich um ein Kürzel handelt, einen Fehler der Einwanderungsbehörde, betreibt er Ahnenforschung. Ein Familie namens Rn findet er nicht. Auch in der um spezifisch auffällige Merkmale erweiterten Suche wird er nicht fündig. Er scheint ein Einzelfall zu sein.

Die Farbe seiner Augen ist nicht ein ins Gelbe changierendes Ocker oder eine gelbliche Note von Grün. Sie ist grell und stechend wie die Sonne selbst, hell und blendend und wenn man hineinsieht, wird man geblendet und kneift die Augen zusammen. Dann zucken hinter den geschlossenen Lidern, die immer noch orange sind und schmerzen, kleine schwarze Punkte wie Verbrennungen umher. Der Anblick, im Freien kaum auszuhalten, wird in geschlossenen Räumen und erst recht bei künstlichem Licht unerträglich.

Enzo trägt getönte Brillengläser. Er versucht auch farbige Kontaktlinsen, aber seine Augen stoßen sie ab wie fremdes Gewebe. Tränen strömen aus den Winkeln und die Wassertropfen wirken wie Prismen, die nur das gelbe Spektrum kennen. Strahlen, wie sie die Herbstsonne durch den Nebel schickt. Mit seiner Sammlung an Sonnenbrillen fühlt sich Enzo wie ein Blinder. Er weiß, dass irgendwann der Moment kommt, in dem sein Gegenüber erwartet, dass er die Brille abnimmt. Ohne den Blick des anderen funktioniert das Miteinander nicht. Daher hat er keine Freunde.

Eine Weile versucht er das Schema die Schöne und das Biest. Im Film gibt es immer Irgendeine, die aller Hässlichkeit, Grausamkeit und Obszönität zum Trotz das Liebenswerte findet. Und einige Male nimmt er die Brille ab, ohne dass die Frau gleich davonläuft. Wie die Schlange vor dem Kaninchen starrt sie ihn an und bewegt sich nicht. Versucht zu lesen was das Gelb will. Kein Gedanke stellt sich ein. Nur Leere, Nichts, das so laut ist, dass es die Worte verschlingt, die Enzo sagt.

Das Problem ist, dass Enzo sich in ihre Träume schleicht und sie dort mit seinen gelben Augen zu Tode erschreckt. Ich weiß das, denn ich bin eine von ihnen. Ich will ihn mit meiner Schönheit blenden und werde bestraft mit einem immer wiederkehrenden Alptraum. In diesem Traum bin ich eine Furie, denn ich bin zornig über diese ständige Wiederholung der Angst. Sobald Enzo in der Nacht erscheint, renne ich auf ihn zu und trommle mit meinen Fäusten an seinen Brustkorb, der sich anfühlt wie eine Eisentür. Die gelben Augen sind ein Magnetfeld, schwarze Löcher, Trichter aus dunkler Materie. Bevor Enzo seinen Blick auf mich richtet, fange ich an zu schreien.

Von meinem eigenen Schrei werde ich wach. Reset.

kr kr kreativ

kreativ

Stotterst du nun, fragt Anna. Neee. Dieses kratzige Wort macht es mir nicht leicht. Es hört sich an wie das Gegenteil von dem wie es sich anfühlt. Kreativität als Bedürfnis einzuordnen ist ein weiterer Schritt auf meiner Identitätstreppe.

Du hast eine Identitätstreppe? Und? Gehst du hoch oder runter? Ist das so was wie die Karriereleiter? Gläserne Decke und so?

Selten hat Anna so viele Fragen. Es ist das glatte Gegenteil von Karriere. Die Treppe ist aus Luft. Karrieristen sehen sie nicht. Kreativität ist leicht, unsichtbar und manchmal so dick wie ein Fesselballon. Bläht sich in mir auf und verdrängt alles andere. Will ein Wort sein und zwar ein ganz bestimmtes. Ich suche es , forsche danach, rolle es auf der Zunge und wiege seine Leichtigkeit. Der Gedanke wird flüssig und fließt in den Bauch. Dort wird er wahr. Wenn der Bauch sich bläht vor Freude.

Dann steige ich auf. Verlasse die Gesetze der Schwerkraft und fliege. Aus dem Wort wird ein Satz und die Idee zieht mit einer Wolke wie ein Tropfen Regen. Jeden Moment kann er fallen. Auf fruchtbaren oder unfruchtbaren Boden. In die Wüste. Ins Meer. Auf einen Schrottplatz. Dort rostet er fest. Wenn ich Pech habe.

Anna lacht. Gefällt mir, sagt sie. Du hast aber kein Pech, du hast Glück. Ich kenne dieses Bedürfnis nicht. Ich kenne nur die anderen sex, äh sechs. Hihi. Bin aber trotzdem irgendwie ganz.

Klar bist du das, Anna. Du bist wunderbar. Mehr braucht es nicht. Meine Kreativität ist wie ein zusätzliches Hungergefühl, eine Kalorienbombe, ein Dickmacher, eine Fettsucht. Öl, das auf Wasser schwimmt. Das sich regenbogenfarben breit macht. Ich sehe sie nur von innen.

Ich sehe sie von außen, sagt Anna. Sie ist ein Geschenk. Eine zusätzliche Dimension, eine Facette, ein Detail, das du polieren kannst. Lass es zu.

Annas Imperativ stärkt meinen Impuls. Sie sieht die wilde Intuition, die manche in die Irre führt. Anna nimmt die Federn als Boa auf und windet sie um ihre Schultern. Blinkt mit den Lidern, senkt sie einladend ab.

Jetzt ein Drink aus Holunderblütensirup, Zitrone und Quellwasser – auf die Kreativität und das was sie auslöst. Was wäre sie ohne das andere. Danke Anna.

Wasser atmen

Ich kippe mitsamt dem Stuhl ins Wasser. Habe meine Arme kompliziert um die Lehne geschlungen, warum eigentlich. Aus Anmutsgründen vielleicht. Jetzt schlägt der Wasserspiegel über mir Wellen und ich sinke in die Tiefe. Kann die Hände nicht befreien, bin wie gefesselt. Gefesselt unter Wasser ersaufen. Einmal tief die nicht atembare Luft einsaugen und nach einer kurzen Panikphase ist Ruhe. Dann sitze ich auf dem Grund in meinem Stuhl als wäre es ein Garten. Blicke mit offenem Blick ins trübe Weite. Mein Haar wallt wie das einer Meerjungfrau. Bald grün von Algen. Die Haut ist weiß wie der Bauch vom Hecht. Er knabbert an meinen Zehen. Das kitzelt und ich wache auf.

Warum klopft mein Herz so laut. Es dröhnt in der Nacht wie ein Nebelhorn. Etwas ist anders als sonst. Dieses Mal wache ich nicht auf, als der Stuhl ins Wasser kippt, schrecke auf und berühre beruhigt die Bettdecke. Dieses Mal gehe ich unter und ertrinke. Bleibe eine Weile da unten und bin tot und doch wieder nicht, weil sonst würde ich das Kitzeln nicht spüren. Aber es ist nicht dieses fröhliche, ausgelassene Lachen, das ich sonst beim Kitzeln lache. Es ist eine gequälte Grimasse im Gesicht.

Die Erinnerung gibt mir keinen Hinweis auf den Stuhl, auf die Terrasse, von der ich stürze oder von der Art des Gewässers. Habe das alles noch nie gesehen. Das einzig Vertraute ist die Person, die neben mir sitzt. Der Grund meiner missglückten Grazie. Sie blickt mich an wie ich versinke. Sie schubst mich nicht und hilft mir nicht. Springt nicht hinterher. Trotzdem habe ich sie in angenehmer Erinnerung. Sie duftet wie warmes Brot und ihre Aura knistert auch so. Als sie da war hätte ich sie einatmen können. Statt dessen atme ich Wasser.

Schon oft habe ich vom Ertrinken geträumt. Der Traum ist vertraut und daher nicht abstoßend. Wann er genau wiederkommt, kann ich auch nicht einordnen. Was ist mit meinem Gehirn? Kann es mich nicht mal ins Helle führen oder zumindest einen Hinweis geben? Es macht wieder einen auf mysteriös.

Trotz des Ertrinken-Traums gehe ich im See schwimmen. Es kommt mir vor, als fordere ich mein Schicksal heraus. Doof. Auch ins Meer gehe ich mit fester Absicht an den Strand wiederzukehren. Ich spüre, wie die Strömung an meinem Körper zieht. Ganz sachte erst, dann hinaus in Richtung Horizont. Soweit lasse ich es nicht kommen. Solange es kein Traum ist, kämpfe ich gegen den Strom.