Heilt Zeit Wunden? Meine nicht. Die von meiner Nachbarin auch nicht. Ihre Tochter ist vor neun Jahren verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Vielleicht ist diese Wunde zu groß. Ein klaffender und pulsierender Spalt, an dessen Grund ein reißender Bach scharfkantiges Geröll rollt. Scharfkantig hat nichts mit Kant zu tun. Würden kantische Prinzipien wirken, wäre all das nicht passiert. Seit neun Jahren steht jeden Abend eine Kerze im Fenster. Im Dorf stehen Kerzen dort, wo das Mädchen das letzte Mal gesehen wurde. Sie ist fast so lange weg wie sie da war, doch das Nicht-da-Sein wiegt um Jahrhunderte schwerer. Das Mädchen ist jung geblieben und wir zurück Gebliebenen sind grau geworden. Grau vor Gram.
Begegne ich meiner Nachbarin, sehe ich den Schmerz in ihrem Blick. Er ist immer da, auch wenn sie lächelt. Am Schmerz verfängt sich Rastlosigkeit wie eine Schnur an Stacheldraht. Die Schnur sieht aus wie Pferdehaare, blond, drahtig. Blond ist auch das Kind. Die Rastlosigkeit kommt von der Suche nach dem Ort, wo die Verschwundene sein kann. Es ist kein Gucken nach einem Grab. Es ist eine Ausschau nach Anhaltspunkten, die sich vielleicht verdichten. Warum aus einem so gewaltigen Wunsch keine Materie wird, ist mir schleierhaft.
Zu meinem Schmerz gesellt sich stille Verwunderung. Nie stellt meine Nachbarin die Frage nach dem Sinn oder nach Schuld. Sinn und Schuld spielen in ihrem Leben keine Rolle. Es hieße nach Erklärungen zu suchen, die das Verschwinden verkleinern bis hin zum Vergessen. Es geschieht, dass sie einige Stunden nicht daran denkt und dann ist der Schreck so groß wie der erste, als das Kind nicht nach Hause kommt. Ein Schlund, ein schwarzes Loch, das alles – auch die Zeit – verschlingt. Zeit kann keine Wunden heilen, denn sie kommt gar nicht in Kontakt mit ihnen.
Beim Lesen bleibt nur schweres Atmen … und ein Kloß ……. Trauer, die man nicht teilen kann.
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Ja, leider …. ein verlorenes Leben, ein Teil von uns, die das Mädchen kennen…
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Je nach Veranlagung kommen diese Fragen nach Sinn und Schuld – doch ich glaube, wenn sie kommen, dann kommen sie abends, während man sich schlaflos im Bett wälzt und weniger am taghellen, klaren Tag. Da ist man froh, wenn man einen Fuß vor den anderen setzen kann, trotz der Schmerzen. Alles Liebe und ganz viel Kraft von der Beobachterin
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Ja, es scheint wohl Veranlagung zu sein, aber auch persönliche Stärke, vor allem nach Schuld zu fragen. Eigentlich spielt Schuld nie eine Rolle für das was bereits passiert ist – zumindest nicht in Einzelschicksalen. Danke für deinen Trost, Beobachterin. lg
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Ob Zeit Wunden heilt oder nicht – auch hier spielt vielleicht eine “Veranlagung” oder eine Haltung oder was-weiß-ich eine Rolle. Zeit verändert zumindest. Distanz schafft neue Perspektiven. Das gilt nicht für den Schmerz eines Verlustes. Nicht für die Verzweiflung an einer unerklärbaren Grausamkeit. Wohl aber für die eigene Position. Das Geschehen bewegt sich von meinem jetzigen Dasein nach hinten weg. Es steht nicht mehr wie eine kalte Wand vor mir. Das ist eine Chance. Schuld spielt nie eine Rolle. So würde ich das auch sagen.
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Zeit ist eine Chance, ja. Die Chance, eine Haltung zum Schmerz zu entwickeln.
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Nein !
Ich kann mir nicht vorstellen, dass solch eine Wunde heilt.
Mir bleibt nur ein Kloß im Hals bei dieser traurigen Geschichte.
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