In einer Bar lerne ich den Magnetiker kennen, Paläomagnetiker genau genommen. Er erzählt mir von der bevorstehenden Pol-Umkehr. Nordpol wird Südpol und umgekehrt. Also die geografischen Pole bleiben, aber die magnetischen Pole wandern, wenn ich das richtig verstanden habe. Im Moment zeigt die Kompassnadel ungefähr nach Norden. Nur ungefähr, weil der magnetische Pol schon nach Süden unterwegs ist. Wenn er in der Antarktis angekommen ist, zeigt die Kompassnadel nach Süden. Dann spätestens ist Umdenken angesagt.
Meine Banalfrage „Und … was machst du so?“ erhält eine Tiefenschärfe, die ich gar nicht beabsichtigt habe. Ausnahmsweise trinke ich Anisschnaps. Im geschliffenen Glas glänzt er wie Gelatine. Der Paläomagnetiker bestellt Portwein. Er kennt die Böden, auf denen er wächst. Mit dem Untergrund kennt er sich aus, denn er sucht in den Sedimenten nach Organismen vorzeitlicher Lebewesen. Er schließt aus ihrer magnetischen Beschaffenheit, wie die Pole erdgeschichtlich gewandert sind. Ja, die Pole haben sich schon öfters vertauscht.
Bestimmt denkt er, ich finde das langweilig. Eine Frau an der Bar will nichts wissen vom Dreck und dem ganzen magnetischen Drumherum. Da ist er total schief gewickelt. Wie? Es gibt vier Arten von Nordpolen, Umpolung inbegriffen? Ich ordere mehr Uso. Nein, ich möchte jetzt nicht von mir sprechen.
Der Magnetiker kommt ins Schwärmen. Er trinkt Schnaps mit mir. Die vier Nordpole sind der geografische Nordpol, der arktische Magnetpol, der arktische geomagnetische Pol und der Nordpol der Unzugänglichkeit.
- Der geografische Nordpol ist der nördlichste Punkt der Erde und Antipode des geografischen Südpols. Sie haben zwar feste Breiten, aber keine eindeutigen geografischen Längen. Prost!
- Der arktische Magnetpol ist eine wissenschaftliche Definition. Er befindet sich dort, wo die Magnetfeldlinien des irdischen Magnetfelds aus der Erde strömen. Der arktische Magnetpol wandert. Zurzeit in Richtung Antarktis. Anstoßen mit Anisschnaps.
- Der arktische geomagnetische Pol ist ein theoretischer Punkt des Erdmagnetfelds. Er wird nur zu mathematischen Berechnungen benötigt. Auf die Theorie!
- Mein Lieblingspol ist der Nordpol der Unzugänglichkeit. Wie ist es möglich, dass ich noch nie von ihm gehört habe, wo ich doch seit meiner Jugend die Abenteuerromane der Nordwest- und Nordostpassage gelesen habe? Der Nordpol der Unzugänglichkeit ist der küstenfernste Punkt im Nordpolarmeer. Er liegt über 600 km vom geografischen Nordpol entfernt und hat sich dennoch einen Namen gemacht. Zum Wohlsein!
Thematisch kratzt der Magnetiker erst an der Oberfläche. Er hackt winzige Eiskristalle aus der Scholle und wirft sie mir ins beschlagene Glas. Tausend Jahre altes Eis. Während er spricht, formuliert mein Gehirn Geschichten. In Echtzeit windet es das neue Wissen in kolossale Epen. Kann sein, dass ich die morgen wieder vergessen habe, denn das hier ist wie ein Traum. Ein Rausch aus klarem Alkohol, arktischer Kälte und springenden Polen.
Wir trinken auf die Unzugänglichkeit. Und auf die Unzulänglichkeit. Prosit auf die Unverträglichkeit von Norden und Süden und auf die Unschärfe der Definitionsmacht. Und auf die Umkehr.
Dass sogar die Pole umkehren können, beruhigt mich irgendwie sehr.
morgenschmunzeln
Was für eine herrliche Geschichte polaren Ursprungs! :-)
Liebe Dezembergrüße vom Lu
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Danke lieber Lu, polarisierende Grüße zurück. Der Pol der Unzugänglichkeit hat eigentlich eine eigene Geschichte verdient :)
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Na ja, liebe Peggi, da habe ich große Hoffnung lächel Vielleicht bei einer der nächsten traumhaften Ouzo-Runden :-)
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Schöne Geschichte. :) Und wieder etwas gelernt, das mir Stoff zum Nachdenken gibt..
Ich habe mal auf einem Kongress einen Phrenologen getroffen. Das war auch ganz interessant. ;)
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Thx Anna. Der Phrenologe war ein älterer Herr? Gibt es diese Profession noch? Ich gebe zu, ich habe erst einmal “nachgeschlagen”, um was es sich bei der Phrenologie handelt. Auch sehr interessant … :-) liebe Grüße
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Wenn ich so wunderbare Texte lese, fühle ich mich manchmal ganz unzulänglich und verwünsche mich an den Nordpol der Unzugänglichkeit. Quatsch – nur Wortspiel. Wunderbar geschrieben! Und ich muss doch mal die Bars aufsuchen, die du frequentierst, so interessante Leute dort :-)
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Liebe Birgit, dich würde ich auch gerne in einer dieser Bars kennenlernen, die Unzugänglichkeit überwinden und … was trinken Bibliophilinnen? Liebe Grüße und Danke, Peggi
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Das wäre sicher lustig :-) Wobei ich, wenn mal was Alkoholisches, nichts Feingeistiges bevorzuge, sondern ganz profan einen Rotwein oder ein Pils :-)
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Wunderbar. Der letzte Satz muss aber eigentlich “dass auch Pole umkippen können” heißen. Denn umgekippt bist nach den vielen Ouzos doch bestimmt du – und der Polarforscher – die Pole können sich ja noch ein bisschen Zeit nehmen.
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Aus der Bar komme ich wie vom Nordpol mit diesem Langlaufskischritt, also eher gleitend und ausgleichend, da kippe ich nicht so schnell um :-) Der Magnetiker hat das Gleichgewicht verloren, haha, ist nach Süden gedriftet – also nach unten …..lg
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Herrlich! Ich will da auch hin. Nein, nicht in die Bar. (Obwohl.) An die Pole! Alle vier! Mal zwei? (Aber danach in die Bar, ganz bestimmt!) Prost!
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An die Pole! In die Bar! Es gibt doch bestimmt irgendwo eine coole Bar, die Nordpol heißt …. ja, Prosit! LG
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