Mehrheit gewinnt

Gut oder schlecht gibt es nicht. Es kommt nur darauf an wer in der Überzahl ist. Die Mehrheit gewinnt. Outnumbered sagen die Englischen. Das Statement bezieht sich auf alles, was wir zu uns nehmen. Also nicht nur Essen, sondern auch was wir uns sonst so reinziehen. Mental. Intuitiv. Instinktiv. Kollektiv. Wir sind geprägt von Quantitä sagt die ayurvedische Köchin. Anna und ich essen ab und zu bei ihr. Auch alkoholische Getränke sind erlaubt. Es schwimmen Blüten drin.

Mehrheit

 

Das ist nicht befriedigend, entgegne ich, denn ich habe innerlich schon lange die Guerilla auf mein Gehirn angesetzt. Ab und zu gelingt ihr ein Streich gegen die graue Masse. Dann lachen und grölen wir und hauen uns auf die Schenkel, während sich das Hirn ins Halbdunkle legt. Migräne will es haben, kriegt es aber nicht. Manche Sachen gehen zu weit.

Anna meint, ich wäre interpretös. Sie ist jetzt nicht hier, aber ihre Stimme summt in meinem Kopf. Interpretös. Ich weiß was sie meint. Das sind viele. Sie interpretieren munter drauf los, lassen die Analogiekorken knallen und wundern sich dann, wenn sie Löcher in die Decke schießen. Werden zum Dealer für ihren Denkjunkie. Überall muss Sinn sein und je mehr davon zu finden ist, desto wahrer wird die Interpretation. So wird aus Wünschen und etwas Wohlwollen Wahrheit. Drei W wie im Internet. Ist nur Zufall, ich weiß.

Das mit dem Gewinnen gefällt mir nicht. So als sei alles was wir tun aufs Gewinnen oder Verlieren fixiert. Ich will mich nicht an diese Dualismen ketten wie ein Hund vor der Hütte. Der Auslauf entscheidet über das Maß an Macht. Die Mehrheit entscheidet wer der Hund ist. Blöder Hund, du. Doofes Hirn.

Ein Drink mit Anna wäre jetzt gut. Sie weiß wie man das Maß überschreitet. Sie zieht mich dann einfach mit. Mitten im Mainstream lassen wir das Tier los und uns treiben.

unvollendet

Diese eine Liebe ist unvollendet. Höflich und brutal wurde sie unterbrochen. Seither schwebt sie im Nimmerland. Ist immer noch Möglichkeit und schön gemalte Melancholie. In ruhigen Momenten weine ich, in aufgewühlten trete ich gegen Gegenstände, die meinem Tritt Einhalt gebieten und dem Schmerz seinen Lauf. Blut im Schuh. So ein unvollendetes Gefühl entwickelt ein Eigenleben, es schaufelt sich die Tiefe, die ihm zusteht. Das Gehirn hilft ihm dabei. Sie sitzen dauernd zusammen und brüten über den Raum, den sie einnehmen wollen. Mein Gehirn, die mentale Schaufel. Gräbt dem Gefühl einen Graben, in dem es Schutz sucht vor meiner Gier nach Vergessen. Und findet. Meine Versuche, die Vergangenheit auszulöschen, fegen wie eine kurze Verwehung über den Graben hinweg. Nur ein kleiner Hauch hat das Gefühl erreicht. Es atmet den Hauch und macht daraus ein Fragment für sein Bild. Ein Mosaik an Erinnerungen, die ich wegschicke und die ihr Ziel nicht erreichen. Statt dessen entsteht eine Statue, ein Monument, ein Stein, aus dem feine Konturen wachsen. Vollendete Unvollkommenheit.

unvollendet

Dieses Pathos in den Worten. Punk Pathos. Rattenpisse auf den Rippen. Ja genau, das hier ist gerade ein aufgewühlter Moment und ich kicke einen Müllcontainer. Der tönt dumpf. Der Schmerz geht bis ins Knie. Das Problem bei diesen unvollendeten Lieben, sage ich jetzt mal so allgemein, ist, dass das abgeschnittene Ende frei herumflattert. Es flattert und weht und fetzt wie ein vergessenes Plastikband an einer Absperrung und irgendwann franst es dann aus. Aber es bleibt, wenn kein Kind oder die Kanalarbeiter es wegreißen.

Ich komme fast täglich an diesem Flatterdings vorbei und will es abnehmen, tue es aber dann doch nicht, weil das könnte ja eine symbolische Handlung sein, deren Folgen ich nicht abschätzen kann. Eigentlich will ich nichts tun, sondern nur warten. Warten, bis jemand anderes etwas macht, das die Vollendung einleitet. Also auf ein Wunder warten. Ja, das mache ich. In der Zwischenzeit lese ich kluge Bücher, spreche mit klugen Menschen und höre anspruchsvolle unvollendete Musik. Ich lese zum Beispiel: Es kommt nicht darauf an, wie lange man wartet, sondern auf wen. Aha. Die Qualität des Wartens ist eine andere je nachdem auf wen man wartet. Im Wartezimmer meines Zahnarztes auf meinen Aufruf zu warten ist anders als darauf zu warten, dass mich meine unvollendete Liebe anruft. Stimmt. Mein Gehirn weigert sich die Erkenntnis über den Qualitätsunterschied anzuerkennen. Es schickt mich zurück wie eine Touristin mit abgelaufenem Visum. Fang von vorne an sagt es.

Wo ist vorne, frage ich zurück.

So ist es immer

Anna sagt zu mir Rebellin und als kleine Latina weiß ich das hat mit Krieg zu tun. Kampf gegen die Konvention, gegen die Doppelmoral und die Scheinheiligkeit. Ich frage mich wo die Wut herkommt. Du kommst aus einer rebellischen Familie erklärt Anna, da ist dir die Wut in die Wiege gelegt worden. So einfach ist das.

Den Zorn zu zügeln ist schwierig. Seine Zerstörung im Zaum zu halten und sich aus seinen wilden Tentakeln zu winden. Nachts wälze mich durch den Schlaf während die Wut weiter nagt. Wogegen bin ich eigentlich? Das heißt nicht wogegen sagt Anna, sondern gegen was oder gegen wen. Sie glaubt an das Erbe weil sie nicht aus dieser Familie kommt. Sie findet diese Wut ist eine gute und verlässliche Energiequelle. Sie kennt meinen Blick, wenn ich aus den Genen heraus agiere. Er fixiert einen unsichtbaren Punkt in der Distanz. Sieht okay aus, guck doch selbst. Es gibt Schlimmeres. Was denn.

soistesMeine Leute sind Schafe sagt sie. Störrische Wollbündel mit Balken in den Augen. Was bedeutet das frage ich sie und schaue nach den Balken in ihren Augen. Sie hat keine und kann auch keine machen. Das bedeutet, dass ich mich dieser Herde von Idioten zugehörig fühle und mich dabei tierisch aufrege, mit einem Brett vor dem Kopf durch die Gegend laufe, immer dem Stallgeruch der anderen nach. Wenig Eigeninitiative und wenn, dann gleich absichern. Bloß nicht absichtlich schwarz werden. Auffallen und aus der Herde stechen – der absolute Alptraum. Anna bleckt ihre Zähne. Mäh.

Wir lachen den Zorn und die Farbintoleranz weg und beschließen: Dies ist eine klassische Schnapssituation. Schnaps drauf. Meine Sippe würde sagen, na, mal wieder zuviel Zeit für Befindlichkeit? Obwohl sie auch Schnaps im Schrank hat. Eine Menge sogar. Annas Familie trinkt nicht. Was sind wir denn für Tiere wenn ihr Schafe seid? Schnapsdrosseln sagt Anna. Aber das stimmt nicht. Obwohl.

Mein Zorn verzieht sich wie ein Tief über dem Atlantik. Er wird jetzt ein paar Mal die Erde umkreisen, neuen Stoff für weitere Wirbel ansaugen und dann wieder kommen. So ist es immer. Was nützt Rebellion gegen einen Kreislauf?

Venezianischer Tau

nixeEs ist wieder passiert: Ich switche in eine andere Welt. Das passiert mir im Museum öfter, aber hier und um diese Zeit und überhaupt hätte ich das nicht erwartet. Die blassen Porzellanköpfchen mit den leicht geröteten Engelswangen fangen an zu lächeln, ihre zarten Wimpern berühren die glatten Wangen und ihr seidiges Haar weht einen winzigen Moment. Ihre Samt- und Brokatkleider rascheln sacht und in einem Augenblick der Leidenschaft drehen sie sich an ihrer Aufhängung um die eigene Achse. Es sind Matrosen, Skifahrer, Blumenmädchen, ja Teufelinnen mit anzüglichem Blick, Elfen, Nixen und Zwerge, die auf Schweinen reiten.

Morgens um elf im Siebengebirgsmuseum. Nein, ich habe keine Nacht hier verbracht. Ich nehme an einer traditionellen Präsentation teil – der Präsentation eines Weihnachtsbaums zum Thema Papier und Watte. Wer glaubt, das Thema Papier und Watte wäre langweilig, irrt gewaltig. Ich will nur ein paar Schlüsselwörter nennen, die mich sofort in ihren Bann geschlagen haben: Venezianischer Tau, das sind winzige Glasperlen aus der venezianischen Glaskunst, die auf glatten Oberflächen wie kühler Tau funkeln. Silberkaschierte Pappglöckchen, Glimmerkarton, Gelatine- und Obladenbildchen, Goldkaschiertes Papierkörbchen mit süßer Füllung, Paradiesgärtlein, Papiermaschee ….

Der Baum ist ein Traum. Ja, diesen Satz muss ich einfach schreiben. Der Baum steht im Foyer des Siebengebirgsmuseums und könnte eigentlich noch etwas größer sein. Geschmückt ist er mit Papier- und Watteschmuck aus dem Fundus bzw. aus der künstlerischen Nachbildung von Irmgard und Peter Becker, die ihrer Leidenschaft für historischen Christbaumschmuck ganzjährig in ihrem Frl. Erna´s Weihnachtshaus frönen. Richtig und angemessen ist der Eindruck erst, wenn ich – wie von Irmgard Becker in ihrem kleinen Einführungsvortrag empfohlen – den Baum nicht als Gesamtkunstwerk sehe, sondern mir die einzelnen Schmuckstücke aus der Nähe betrachte.

Ins Herz schließe ich die gelbblaue Nixe mit ihrer grünen Perlenlaterne und der silbernen Alge über der Brust. Ernst und konzentriert leuchtet sie sich den Weg durch das Tannengewirr. Ich glaube sie sieht irgend einer ähnlich die ich mal kannte, vielleicht eine Verwandte. So zart wie die Erinnerung. Flüchtig. Wie der verzauberte Augenblick, aus dem ich wieder auftauche.

Wo bin ich. Ach ja, im Museum. Presse ist auch da.

Ich möchte nicht darüber sprechen

nicht sprechenAnna sagt zu mir: du bist eine emotionale Selbstversorgerin, weißt du das? Wir trinken Bio Sangiovese aus der Toskana. Draußen ist fast Dezember. Ich höre diesen Ausdruck zum ersten Mal, kann ihn aber schnell einordnen. Mein Gehirn reagiert darauf wie auf einen Löffel Honig. Süß und klebrig haftet er sich an die Synapsen.

Ich schauspielere ein wenig und sehe Anna mit großen Augen an. Was hast du gesagt? Du hast es gehört, jetzt tu nicht so. Ich stehe auf, gehe zu meinem Stapel Karten und halte die Ich-möchte-nicht-darüber-sprechen-Karte hoch. Das ist so ein Spiel mit Anna, neben dem Spiel Getränke ausprobieren. Eines Tages haben wir nur noch die Umsonstkarten mit Sprüchen aus den dunklen Fluren der Bartoiletten mitgenommen. Wir können ganze Konversationen damit bestreiten.

Zum Beispiel zeigt mir Anna die Karte Und-was-machen-Sie-sonst-so,-außer-Kunst? Ich antworte mit Ich-möchte-nicht-darüber-sprechen. Sie signalisiert Küsst-du-mich? Ich kräusele die Stirn und schleudere ihr ein Hang-loose! zurück. Sie kontert mit der Just-do-it. Ich wühle im Stapel nach einer passenden Ausrede. Finde keine.

nicht sprechen2Auf einer ganz in pink gehaltenen Karte steht in hellpink Mach-mich-glücklich, kaum zu erkennen. Anna lacht. Der Wein tanzt Techno in ihrer Iris. Was ist denn das für eine Musik fragt sie mich. Techno sage ich beziehungsweise House. Ich halte ihr die Karte Wo-wohnt-E.T.? vor die Nase. Jetzt lenk´ nicht ab lallt sie. Der Wein haut rein. Rotweinschwere ist sehr angenehm sage ich, so als wäre es Teil des kollektiven Bewusstseins. Ist es ja sagt Anna. Schon die Römer haben Rotwein gesoffen. Der Rausch ist rational. Quatsch, das ist doch kein Rausch. Solange wir über den Rausch reden ist es keiner. Erst wenn wir vergessen. Dann lass uns vergessen sagt Anna und schenkt nach. Prost Rauschgoldengel sagt sie.

Ich bin kein Engel.