x-beliebig

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Dieses Identitäts-Hin-und-Her mit meinem Gehirn mache ich nicht länger mit. Wie kommt es überhaupt auf die Idee, eine einzige Identität wäre ausreichend oder angemessen. Das ist reduktionistischer Blödsinn á la Platon, wonach jeder nur ein einziges wahres Ich hat. Mit den Tierideen kann ich mich auf Dauer sowieso nicht anfreunden. Als Gorilla habe ich außerdem einen so fast identischen Genpool mit mir selbst und meiner vermuteten biologischen Vergangenheit, dass es bestimmt einige affige Nanoteilchen in mir gibt. Ich stehe dazu und schäme mich nicht.

Vielleicht sind sie das wohlige Gefühl von Geborgenheit, wenn die nächste Generation meiner Familie durch die Spielgeräte schwingt. Ich kann zwar jedem Tier etwas abgewinnen, hüpfe nach Känguru-Art immer noch gerne auf meinem Trampolin und genieße den Rückstoß meiner Schafshörner beim versuchten Durchbruch einer Mauer. Das ist alles in mir. Aber weg von den Tieren, Hirn. Das sind zwar ganz nette Analogien und ich schätze die Bemühungen der grauen Zellen, meine Existenz schillern und mein Ego tanzen zu lassen. Viel näher sind mir meine menschlichen Eigenarten.

Aufgezählt ergeben sie allerdings eine ziemlich lange unvollständige Liste auf der gerade mal ersten und ausschließlich privatpersönlichen Kategorien-Ebene, die so gut wie nicht viel aussagt: Frau mit Haut und Haar, früher Mädchen mit Bücherwurm, auch Kind im hohen Gras, Jugendliche auf Kafkatripp, Sinnsucherin, Hippiesympathisantin make love not war, Punkpinonierin mit Respekt vor Springerstiefeln und Vorliebe für aggressive Gitarrenmusik, Schneebegeisterte, Eigentumsverächterin, Second Hand Überzeugte, Biovegetarierin mit inkonsequenten Genießerinausflügen zu einem guten Stück Fleisch, Beerensammlerin, Marmeladenköchin, Tagebuchschreiberin, Läuferin, Fahrradfahrerin, Autofahrerin, Zugfahrerin, Beziehungserfahrene, Mitseglerin, Wander-, Abenteuer-, Strand- und Bergurlauberin, Kaltwasserschwimmerin, Konzertbesucherin, Museumsgängerin, Theaterrezensistin, Kino- und Fernsehguckerin, Kleinkunstbewunderin, Fußballzuschauerin, Fußballspielerin, Kletterin, Frisbeevirtuosin, mit-drei-Bällen-Jongliererin, Pflanzenkennerin, Walnussknackerin, Himmelsrichtungsexpertin, Planeten-, Stern- und Universumsinteressierte, Botanische Gärten Besucherin, Staudenliebhaberin, Liebhaberin im Allgemeinen und Speziellen, Geliebte, Liebende, Verliebte, Mutter einer Tochter, Mutter eines Sohnes, Schwester einer Schwester, Patin einer Nichte, Tante zweier Neffen, Tante von Zwillingen, Freundin, Nachbarin, Meditierende, Geruchs- und Geräuschempfindliche, Aussichtsreiche, Dachterrassengestalterin, Weintrinkerin, Hefeweizentrinkerin, Kaffeetrinkerin, Grüner-Tee-und Cocktail-Schlürferin, Obstbrändekennerin, Sushiverschlingerin, Spaghettiköchin, Pizzabäckerin, Weihnachtsgebäckfanatikerin, Jeansträgerin, Sommerkleidträgerin, Offene-Schuhe-Verneinerin, Barfuß-am-Strand-Schlenderin, Muschel- und Steineaufheberin, Nähmaschinenbesitzerin, Minimalistin, Designer- und Menschenkennerin, Stilsichere, Draußenschläferin, Zuhörerin, Vorleserin, Schlechte-Witze- und Geschichtenerzählerin, Smartphoneträgerin, Gedankenmacherin, Grüblerin, Nachdenkerin, Schreiberin, Diskutantin, Einzelgängerin, Haarefärberin, Lesebrillenträgerin, Monochromistin, Gelegenheitsraucherin, Wolkenfotografiererin, Kurzfilmdreherin, ehemalige Großstadt- jetzt Kleinstadtbewohnerin.

Mal ehrlich, ich könnte einfach jede x-Beliebige sein – die wirklich interessanten Sachen kommen ja erst in den Ebenen darunter und auch diese Liste halte ich mal eben extrem kurz, denn das ist es worüber ich schreibe und schreiben werde: Feinheiten und Fetische, subtile Differenzierungen, Sensibilitäten, Hypersensibilitäten, sensitive Wahrnehmungen, kribbelige Angelegenheiten, dunkle Gedanken, verborgene und überbordende Leidenschaften, geheime Sehnsüchte, kleinkarierte Pingelichkeiten, peinliche Ausrutscher, höchstes Vergnügen, wilde Unbefangenheit, große und kleine Gelüste, schmerzliche und zu Tränen rührende Augenblicke, unbändige Wut, rasender Zorn, lodernde Liebe, grenzenlose Freude, tief empfundenes Glück.

Gleich

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In einer Sekunde schlägt der Stern ein. Ich werde wahrscheinlich sterben. Vielleicht auch nicht. Es sind ungefähr zwei Kilometer Luftlinie und ich weiß nicht wie weit die Glut spritzt. Die Zeit ist zu kurz um sich Gedanken zu machen. Das sind jetzt alles Zufallstreffer. Das Glück gestern. In diesen klaren Augen. Der Moment der Geburt und schon verliebt in dieses fremde Wesen. Das große Gefühl in mir, manchmal für so vieles, für alle. Das Grinsen auf meinem Gesicht wenn sich die Dinge fügen. Sie fügen und fügen und fügen sich und finden dieses phantastische Finale. Eine Druckwelle. Surfen wie damals auf Schnee und den Abgrund schneiden. Der Anblick brennt sich in meine Seele und schenkt mir das Leben. Bis heute. Lange eigentlich. Unendliche Nächte im Universum. Aus Überzeugung winzig. Mikroskopisch kleine Wunder. Magie ohne Widerstand. Ich bin ein Teilchen. Gefüllt mit Lava. Gleich.

Weißer Mohn

ImageTauche heute mit Wucht in die Vergangenheit. Hineingezogen von Pflanzen. Das ist nicht verwunderlich, denn ich habe mich lange in seltenen Pflanzengesellschaften herumgetrieben. Über sie geschrieben. Sie studiert und bewundert. Fotografiert und von ihnen geträumt. Viele Jahre der Hingabe an Pflanzen. Sie fehlen mir. Ihre wunderbaren lateinischen Namen und meine Interpretation derselben. Meine Gefährten. Ich habe mich verabschiedet. Und heute haben sie mich eingeholt. Im Botanischen Garten. Paradies. Zuflucht. Oase.

Botanische Gärten sind voller Hingabe. Alle Pflanzen geben das Beste. Sie wachsen und blühen in wundersame Höhen. Nicken sich zu. Winden sich in der Brise. Zittern vor Aufregung. So wie ich. Soll ich die Tür wieder öffnen? Ich vermisse sie sehr. Dachte ich hätte zugesperrt, aber weit gefehlt. Kein Riegel. Kein Schloss. Durch das Schlüsselloch sickert Verheißung. Abenteuer. Exotische neue Gesichter. Ich muss nur mich selbst überzeugen. Das kann doch nicht so schwer sein. Komm. Gib mir einen Ruck. Schlage ein neues Pflanzenkapitel auf. Schon der Gedanke fühlt sich gut an. Also.

 

es geht so

Große Geschichten gehen über die Suche. Nach Glück, Gold oder einem Gegenüber, das geliebt oder getötet werden soll. Das Gesuchte selbst ist zunächst gar nicht so wichtig. Die Geschichte wie ich dort hin komme ist wichtig. Gestern sehe ich eine Frau die ist so bleich als hätte sie ein Gespenst gesehen. Ich kenne sie aus den Geschäften und frage sie ob es ihr gut geht. Sie sagt es geht so und erzählt mir ihr Geheimnis.

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Vor langer Zeit, vor über zwanzig Jahren, verliebt sie sich Hals über Kopf in einen der nicht frei ist. Einem, dem sie ihr Herz schenkt, der aber nur halbherzig zu ihr kommt. Der immer wieder geht wenn es am schönsten ist. Bis er eines Tages ganz weg bleibt. Sie weint bittere Tränen und klammert sich an ihre Bettpfosten damit ihre Träume sie nicht ins Nirgendwo schleudern. Tapfer schlägt sie sich täglich durch ihr Leben. Die Stunden schleichen wie halbe Ewigkeiten und die Nächte sind schwarze Unendlichkeit.

Dann spürt sie wie sich ein Kind in ihr regt. Das Kind gibt ihr Trost, auch wenn es so aussieht wie er. Das Glück, das sie sucht, findet sie nicht. Läuft sie neben ihrem Sohn durch die Straßen kommt es ihr vor als mache sich das Schicksal über sie lustig. Als führe es sie unaufhaltsam auf eine Wiederholung des schmerzlichsten Abschieds ihres Lebens zu. Denn er wird gehen so wie alle Kinder irgendwann gehen. Sie wird wieder allein sein und sich fragen warum alles so geschehen ist.

Die Frau seufzt. Mit jedem Tag, der vergeht verliert sie mehr Farbe. Als würde das Licht es aufgeben sich an ihr zu brechen. Bald wird sie unsichtbar sein und ich weiß nicht wie es dann weiter geht. Ohne Drama oder Happy End läuft diese Geschichte einfach aus.

Merkur

OMG. Ich habe ihn gesehen. Gestern. Nur kurz, aber es war wie ein Wasabi-Flash oder wie George Clooney auf der anderen Straßenseite, also bevor er sich verlobt hat. Das Bühnenbild ist berauschend: Ein tief türkisfarbener Abendhimmel mit einem goldroten Rest von untergegangener Sonne. Der strahlende Jupiter in Augenhöhe und plötzlich: Da blitzt er! Da ist er! Da! Merkur. Der Kleinste, Schnellste, Sonnennächste mit einem Orbit von höchster elliptischer Exzentrizität. Ich liebe ihn. Kann meinen Blick nicht von ihm wenden. Hüpfe vor Begeisterung auf dem elastischen Holz meiner Aussichtsterrasse herum. Eine schnelle Bewegung am Himmel – und weg ist er.

ImageDie Glückshormone diffundieren und mein Gehirn fragt mich was die ganze Aufregung soll. Was ich mit Merkur zu schaffen habe. Einem zu heißen bzw. zu kalten und zu dichten Gesteinsplanet. Einem Eisenbrocken, den Jupiters Schwerkraft jederzeit aus seiner Umlaufbahn herausreißen, aus dem Sonnensystem heraus oder gar in die Sonne hinein schleudern könnte. Der mit der Venus oder mit uns, der Erde, kollidieren und uns alle auslöschen könnte.

Kann ein Gehirn eifersüchtig auf einen Himmelskörper sein? Klingt schon ein bisschen danach, oder. Wozu sonst diese brutale Wortwahl und die zerstörerischen Szenarien. Was mein Gehirn noch nicht weiß: Ich werde ihn jetzt jeden Abend treffen, auf die Schnelle, auf einen Kick. Merkur. Bis er sich wieder meinem Blick entzieht.