Die Zeit ist um

In meine Wanne steigt ein dicker Mann, sehr dick. Der Wasserspiegel steigt um mehrere Zentimeter. Ich lächle höflich und denke Mann ist der dick. Sein Körper verschwindet unter der Oberfläche. Sein großer gelockter Kopf hüpft wie ein Korken auf und ab. Dampf steigt auf. Dann spricht er zu mir. Er sagt nicht Hallo oder seinen Namen. Nein, er erzählt von seinem Krampf. Ein anhaltender Krampf in der Wade. So schlimm, dass er orthopädisch behandelt werden muss. Der Arzt hat ihm mehr Bewegung verordnet. Seitdem fährt er Rad, also E-Bike.

Ich tauche kurz unter, denn die Wanne ist ein Whirlpool im Freien und es ist Winter. Da wird der Kopf kalt. Das Wasser ist warm, aber der Kopf wird kalt. Der Pool ist direkt am Rhein, es tuckern Frachter vorbei. Meine Beine machen Schwimmbewegungen wie ein Frosch. Dabei schaue ich auf die Uhr. Fünf Minuten. Zehn Minuten. Der Mann redet, ich strample. Er spricht von den Touren mit seinem E-Bike. Er fährt zum Beispiel mit der Bahn bis an die belgische Grenze und radelt dann durch das hügelige Land. Oder er fährt nach Aachen und von da nach Holland. Holland finden wir beide gut. Ich nicke stumm.

Rhein_10Von der Wanne haben wir Aussicht auf eine Burg über Bad Breisig. Diese Burg kenne ich nicht. Ich frage den Mann ob er weiß was mit der Burg ist. Er sagt, da wohnt ein amerikanischer Nerd, Computer und so. Echt? Ja, nicht Steve Jobs, RIP, aber auch ziemlich groß. Also ist die Burg in Privatbesitz. Jaja. Ich glaube ihm nicht. Wenn ich auf die Burg schaue, gucke ich immer gegen das Licht. Ich sehe nur die Silhouette.

Nach fünfzehn Minuten verabschiede ich mich. Sage ich wolle noch schwimmen. Aber ich will nur weg. Dieses Missverhältnis der Proportionen irritiert mich. Am Arm des Mannes ist mehr als an meinem Bein. Also mehr von Allem: Knochen, Gefäße, Fleisch, Haut, Haare. Mein Gehirn betont diese Dinge wie Dexter. Der diese Teile im Meer versenkt. In schwarzen Mülltüten. Weil es Morgen ist und weil die Sonne scheint fröstelt mich nicht. Meine Anteilnahme bei Dexter ist keine Opfersicht.

Mit kräftigen Zügen schwimme ich gegen meine Zickigkeit. In der Halle steht der Bademeister auf einem Bein und animiert mit lauter Stimme die Badenden, es ihm gleichzutun. Die Menschen fallen wie in Zeitlupe. Ich ziehe meine Bahnen und zähle die Minuten. Im Bad geht es immer um die Zeit. Ich bezahle die Zeit, die ich hier verbringe. Der Meister balanciert noch. Er folgt meinem vorbeischwimmenden Blick. Dann ist es vorbei. Die Zeit ist um.

Castle

Eine Frau geistert in diesen Mauern. Nachts hetzt sie durch den Saal, aber niemand sieht sie. Keiner hört sie, wenn sie ihre Klagen flüstert. Sie ist eine Erinnerung, so stark und mächtig, dass sie wie Materie ist. Ein Hologramm. Eine Gestalt. Eine Tote, die mal gelebt hat. Sie ist da für die, die so etwas für möglich halten. Sie ist eine Mahnerin. Nicht alle müssen sterben, die von diesem Turm springen. So hoch ist er nicht. Man kann das auch überleben. Sie springt und schafft es nicht.

Die Schlüsselszene ist folgende: Es ist 1885. Anna ist jung und nach eigenem Ermessen nur mäßig hübsch, weil sie keine Kurven hat und ihr Haar zu dünn ist. Außerdem kräuselt es sich ungeordnet zu wirren Locken wenn die Nebel vom Fluss aufsteigen. An ihrem 21. Geburtstag schenken ihr ihre Freundinnen Konzertkarten. Grandios. Mit glücklichem Gesicht kommt sie irgendwann in der Nacht nach Hause und wundert sich, dass in der Halle das Licht brennt. Dann fällt ihr ein, dass ihre Mutter sie nicht zu dem Konzert gehen lassen wollte. Sie will sie an ihrem Geburtstag ganz für sich haben. Sie hat sich widersetzt. Die Wut ihrer Mutter hat sich bis in die späten Abendstunden in einen rasenden Zorn verwandelt.

Anna kennt das schon. Wenn sie Pech hat, ist in ihrem Zimmer eine Verwüstung angerichtet oder in ihrem Tagebuch Seiten heraus gerissen. Sie schreibt mittlerweile ihre Aufzeichnungen im Bewusstsein dessen, dass die Mutter sie liest. Weil sie nicht einsieht, dass sie ihr Tagebuch verstecken oder immer bei sich tragen soll. Die Mutter verstößt gegen ihre Privatsphäre und nicht umgekehrt. Also ist sie selber schuld, wenn ihr nicht passt was da über sie geschrieben steht. Nun steht sie in der Tür und kann sich kaum beherrschen. Sie versperrt Anna den Weg ins Innere des Hauses, streckt ihre Hand aus und fordert mit lauter Stimme die Schlüssel ein. Sie sagt: Du gehst jetzt. Verschwinde. Ich will dich nicht mehr sehen. Schiebt ihre Tochter von der Schwelle und knallt die schwere Tür zu.

Verblüfft steht Anna noch eine Weile in der kalten Nachtluft. Was habe ich getan? Denkt sie. Nichts. Nichts. Nichts. Sie schnappt sich ihre Tasche und läuft den Berg hinab. Der Nachtwind tut gut. Fünf Jahre lang kehrt sie nicht zurück. Im vierten Jahr springt ihre Mutter vom Turm.

Diese Geschichte ereignet sich wirklich. Sie ereignet sich so lange immer wieder, bis sie auch Anna, die ich kenne, passiert. Sie starrt auf den Sims und sieht in die Tiefe. Etwas in ihr zögert. Wie kann sie aus dieser Schleife schlüpfen? Sie will nicht springen. Auch nicht irgendwann. Will auch gar nicht schuldig sein.

Den Geist ihrer Mutter schickt sie zum Teufel. Der will ihn nicht. Also geistert er weiter.

wäre sie frei

Sie kauert im Keller. Kühl ist es, nicht kalt. Krümmt sich dort im schwarzen Staub wo früher die Kohlen lagen. Du kriegst mich nicht sagt sie. Ich kann sie kaum erkennen. Wer ist sie? Freiheit oder Angst. Wut. Liebe. Konzentriere ich mich auf die Kontur oder mache ich eine Kehrtwende. Keine Chance. Komm raus rufe ich.

wäre sie freiWäre sie die Freiheit würde ich mich freuen. Fast glaube ich sie zu fühlen. Ihr feines Flattern noch fern aber verheißungsvoll. Entfaltet vielleicht ihre Flügel und fliegt mit mir fort. In ein fernes Land das nur in meiner Fantasie funktioniert. Meine Flucht wäre folgenlos.

Wäre sie Angst wollte ich sie nicht. Auch nicht an dem Abend als sie allgegenwärtig ist. Die Angst macht mir angst. Am Anfang ist sie andeutungsweise harmlos, dann wachsen aus der Ahnung lange Schnüre wie von Angeln geworfen und haken sich fest. In einem Ausmaß, das lahm macht. Das einen Ausweg in den Abgrund führt.

Wäre sie Wut würde ich mich wehren. Will mich nicht ihrem Willen beugen. Sie wandert ja schon eine Weile mit mir. Wuchtet sich durchs Wasser wie ein schwerfälliger Wal während ich versuche zu entwischen. Die Wellen werfen mich wieder in die Welt. Noch mehr Wut als die, die ich schon habe, würde mich weichkochen. Widerlichen Wackelpudding aus mir machen. Suche das Weite, Wut.

Wäre sie Liebe finge mein Leben Feuer. Lebendiges Licht. Leuchtende Laterne. Eine lila Flamme wie in diesen Lampen aus längst verlorenen Legenden. Ich lenkte sie langsam aus dem Staub in ein liebliches Land. Die Leute lachen wenn sie die Liebe erblicken. Erinnern sich an Leidenschaft, rosa Luft und verträumte Augenlider. Will sie nicht links liegen lassen. Los! Lieber alles andere verlieren, aber nicht die Liebe.

Ich nähere mich der schwarzen Gestalt. Es ist nur ein Schatten.

Das Licht kommt jetzt von Norden

So hieß vor einigen Jahren eine Ausstellung skandinavischer Maler und das nordische Licht verzauberte alle, die in seinen Bann gerieten. Auch mich. Seitdem bin ich irgendwie anders. Ich versuche das mal zu erklären.

LichtnordenDie Verzauberung dringt durch meine Augen in die Gedanken, die ich gerade denke. Ich stehe vor einem Bild. Das Bild zeigt eine Frau mit heller Haut. Sehr hell, fast weiß. So eine Haut habe ich noch nie gesehen oder berührt. Vielleicht gibt es im Norden Menschen mit dieser Haut denke ich gerade als die Verzauberung mich trifft. Also nichts besonders Ausgewöhnliches, Intelligentes oder Originelles. Mein gut erzogenes Gehirn denkt einfach angemessen zur Ausstellung, stellt gewöhnliche Assoziationen her und kramt etwas träge nach Analogien aus der Vergangenheit. Es gibt mir eine Erinnerung aus Dänemark. Einen leeren Strand mit Heckenrosen, hinter denen sich die Menschen vor dem Wind geschützt sonnen. Die Rosen wachsen auf Sand und ihre Dornen sind sehr spitz. Mehrere Male habe ich in Dänemark Dornen aus meinem Daumen gedrückt.

Ich sehe die Dänen mit ihren hellen Haaren und ihrem freundlichen Blick. Ich bemerke die Sommersprossen auf ihren Schultern. Aber niemand hat diesen Teint wie hier die Frau auf dem Bild. Ein unsichtbarer Stahl aus Licht baut sich zwischen uns auf. Er ist erst ganz dünn wie eine Schnur aus Rauch, wird dann zu einer filigranen Spirale aus Hanf und schließlich ist er dick wie eine Wand und genauso stabil. In dem Moment überlege ich nicht. Ich ziehe einfach den Strang hinter mir her. Aus der Ausstellung raus auf die Straße. Keiner guckt komisch.

Das liegt daran, dass nur ich ihn sehen und fühlen kann. Er knebelt mich nicht, er schränkt mich nicht in meiner Bewegungsfreiheit ein, er ist nur einfach eine weitere Windung in meinem Hirn. Dieses neue Hindernis wirft andere Schatten auf die Eigenaktivität meiner Neuronen. Sie erzeugen jetzt weißes Licht, die Summe aller Farben. Ein angenehmer Nebeneffekt ist außerdem, dass ich glücklich bin. Das weiße Licht, die weiße Haut, alles ohne Sonne, machen meine Seele froh. Ich weiß dass das verrückt klingt. Genau so ist es aber gewesen. Ist es bis heute.

Ein wenig von diesem Licht reicht und ich werde zum Weichei. Bin ganz verzückt vor Wonne. Jedes Mal ein kleines Wunder.

Es schmerzt mich sehr wieder loszulassen. Für diese Geste habe ich lange geübt. Am liebsten würde ich mich aufkleben und es atmen. Aber ich kann mich wieder lösen und bin einigermaßen stolz darauf. Niemand will nicht nicht wieder losgelassen werden. Außer von Sachen die sonst niemand sieht. So wie ich von diesem nordischen Licht. Es darf in mir sein. Manchmal wundern sich welche warum ich mich so vertiefe. Doch dann ist es ja auch wieder normal. Jede und jeder vertieft sich mal. Taucht ein und wieder auf. Wie ein Kind, das spielt. Taucht in eine andere Welt und wird dann zum Essen gerufen. Tut so als säße es am Tisch und träumt doch seinen Traum weiter.

Wo fängt der Norden an? Na hier, direkt einen Meter nördlich von mir.

Kleine schwarze Sonne

Er sagt er ist Finne. Ich glaube ihm. Bohre meinen stahlgrauen in seinen eisblauen Blick. Er meint Schwingungen bestimmen sein Leben. Lächelt dabei sein finnisches Lachen. Offen wie die baumlose Landschaft. Klar wie ein kalter See.

Wir liegen hier. In dieser Kugel. Kaum haben wir uns kennengelernt fragt er mich: Kommst du mit in die Kugel. Ich nicke und habe keinen Schimmer was er meint mit der Kugel. Klingt aber gut: Kommst du mit in die Kugel.

kleineschwarzeSonneDie Kugel ist aus Holz und innen drin ist sie dunkel. Fast. Aus unzähligen winzigsten Löchern scheint das Licht hinein. Sternbilder. Planeten. Wirklich. Ein japanischer Künstler hat in deutsche Kirsche das Himmelszelt gebohrt. Hiroyuki Masuyama. Die gesamte Hemisphäre um uns herum, Norden und Süden. Der Finne streicht über das Firmament.

Die Schwerkraft drückt uns in das Kreuz des Südens aber unsere Körper sind leicht. Schweben fast. Das helle Haar des Finnen hat eindeutig eine Aura aus blauem Schein. Spürst du die Schwingung fragt er mich. Seine Stimme schwerelos. Sie kreist um uns herum wie eine kleine schwarze Sonne. Ich spüre die Energie sage ich. Feuer. Wärme. Brennen.

Wir gehen nun wieder heraus sagen seine Gesten. Gib mir deine Hand. Ich schließe meine Augen. Will das Dunkle noch etwas konservieren. Die dunkle Energie um uns herum. Die dafür da ist dass wir nicht auseinanderfallen wenn wir aus einer Kugel steigen. Der Finne grinst als ich blinzle und sagt irgendwas Finnisches. Klingt wie ein flacher Stein, der übers Wasser platscht.

Du kommst wieder sagt er. Ich glaube ihm.