Schlaf ist meine Decke

In dieser Nacht fällt sie von mir ab. Die Erinnerung. Sie stürzt in die Tiefe wie Gandalf in den Schlund des Balrog von Morgoth. Lange sehe ich ihr hinterher. Im Traum kann ich das. Kann sie noch als kleines Pünktchen sehen, das langsam eins wird mit der sie umgebenden Dunkelheit.

Schlaf ist meine Decke

Der Verlust lässt mich zittern. Als müsste mein ganzer Körper Abschied nehmen. Soll er doch. Das Bett vibriert. Dann ist es vorbei und weil die Erinnerung weg ist, wundere ich mich was mich so bewegt hat. Ich erinnere mich nicht. Muss ein Traum gewesen sein.

So geht es mir ständig. Ich erlebe, rätsle lange herum ob das wichtig ist, gebe Raum, drehe und wende mich, um zu passen bis es kneift und ich erkenne, dass nichts passt. Dann ist schon eine dünne Haut zwischen mir und den Dingen, die da passieren, Haut wie auf erkaltender Milch oder Haut wie die sich lösende von Schlangen. Ich schlängel mich raus. In der Nacht wird die Erinnerung entsorgt. Ich zittere und schwitze ein wenig und vielleicht schreie ich auch manchmal. Das müssen leise Töne sein, denn niemand hat sich je darüber gewundert, ist aufgewacht, hat mich geschüttelt und gesagt wach auf. Der Schlaf ist meine Decke. Gemeinsam halten sie mich warm.

Am Tag bin ich wach. Goldene Sonne im Gehirn und auf dem Haar Schnee, der schmilzt. Tränen, die mir lachend über die Wangen laufen. Keiner bezweifelt meine Heiterkeit. Ich frage mich, ob dieser Verlust an Erinnerungen zu meinem Glück beiträgt. Denn das Gute bleibt, nur schwarze Gedanken und ihre rußige Rinde gehen zugrunde. Nein, ich lächle nicht. Mache mir schon wieder einen Kopf ob nicht auch das Schlechte eine Gunst verdient und der Ausgewogenheit willen nicht eine Art Gleichgewicht herrschen soll. Herrjee, die herrschende Meinung hat mich immer schon geärgert und dieser strenge Dualismus ist auch nicht meins.

Mein Gehirn meint es wüsste auch nicht wer die Kontrolle über die Auswahl der zu vergessenen Erinnerungen hat. Es selbst nämlich nicht und schließlich sei es auch nicht für alles zuständig. Es wäre ihm egal, woran und woran es sich nicht erinnert. Qualitativ spiele das keine Rolle. Den Konjunktiv hat es jedenfalls gut im Griff, denke ich. Den Genetiv könnte es noch üben. Als es den Gedanken liest verzieht es wahrscheinlich das Gesicht, das es nicht hat.

Castle

Eine Frau geistert in diesen Mauern. Nachts hetzt sie durch den Saal, aber niemand sieht sie. Keiner hört sie, wenn sie ihre Klagen flüstert. Sie ist eine Erinnerung, so stark und mächtig, dass sie wie Materie ist. Ein Hologramm. Eine Gestalt. Eine Tote, die mal gelebt hat. Sie ist da für die, die so etwas für möglich halten. Sie ist eine Mahnerin. Nicht alle müssen sterben, die von diesem Turm springen. So hoch ist er nicht. Man kann das auch überleben. Sie springt und schafft es nicht.

Die Schlüsselszene ist folgende: Es ist 1885. Anna ist jung und nach eigenem Ermessen nur mäßig hübsch, weil sie keine Kurven hat und ihr Haar zu dünn ist. Außerdem kräuselt es sich ungeordnet zu wirren Locken wenn die Nebel vom Fluss aufsteigen. An ihrem 21. Geburtstag schenken ihr ihre Freundinnen Konzertkarten. Grandios. Mit glücklichem Gesicht kommt sie irgendwann in der Nacht nach Hause und wundert sich, dass in der Halle das Licht brennt. Dann fällt ihr ein, dass ihre Mutter sie nicht zu dem Konzert gehen lassen wollte. Sie will sie an ihrem Geburtstag ganz für sich haben. Sie hat sich widersetzt. Die Wut ihrer Mutter hat sich bis in die späten Abendstunden in einen rasenden Zorn verwandelt.

Anna kennt das schon. Wenn sie Pech hat, ist in ihrem Zimmer eine Verwüstung angerichtet oder in ihrem Tagebuch Seiten heraus gerissen. Sie schreibt mittlerweile ihre Aufzeichnungen im Bewusstsein dessen, dass die Mutter sie liest. Weil sie nicht einsieht, dass sie ihr Tagebuch verstecken oder immer bei sich tragen soll. Die Mutter verstößt gegen ihre Privatsphäre und nicht umgekehrt. Also ist sie selber schuld, wenn ihr nicht passt was da über sie geschrieben steht. Nun steht sie in der Tür und kann sich kaum beherrschen. Sie versperrt Anna den Weg ins Innere des Hauses, streckt ihre Hand aus und fordert mit lauter Stimme die Schlüssel ein. Sie sagt: Du gehst jetzt. Verschwinde. Ich will dich nicht mehr sehen. Schiebt ihre Tochter von der Schwelle und knallt die schwere Tür zu.

Verblüfft steht Anna noch eine Weile in der kalten Nachtluft. Was habe ich getan? Denkt sie. Nichts. Nichts. Nichts. Sie schnappt sich ihre Tasche und läuft den Berg hinab. Der Nachtwind tut gut. Fünf Jahre lang kehrt sie nicht zurück. Im vierten Jahr springt ihre Mutter vom Turm.

Diese Geschichte ereignet sich wirklich. Sie ereignet sich so lange immer wieder, bis sie auch Anna, die ich kenne, passiert. Sie starrt auf den Sims und sieht in die Tiefe. Etwas in ihr zögert. Wie kann sie aus dieser Schleife schlüpfen? Sie will nicht springen. Auch nicht irgendwann. Will auch gar nicht schuldig sein.

Den Geist ihrer Mutter schickt sie zum Teufel. Der will ihn nicht. Also geistert er weiter.

Kiosk

KioskAn diesem Kiosk kann man nix kaufen. Es ist nur eine Schrift auf einem Haus. Graffity? Lenke meine Schritte zur besprühten Wand und suche einen Eingang. Lasse meine Finger über den Verputz gleiten. Vielleicht gibt es eine versteckte Tür. Während mein Gehirn schon mental abwinkt, will ich nicht wahrhaben, dass dies eine Irreführung ist. Sprühe Kiosk auf eine Wand und gehe Zigaretten kaufen. Komme nicht zurück. Bleibe in der Welt in des Virtuellen. Wer gibt mir diese affirmativen Anweisungen? Kiosk ist ein Geniestreich.

Seit ich Kafka und Breton gelesen, später Matrix gesehen habe ist der Konjunktiv für eine Parallelwelt relativ. Mag sie Kiosk heißen. Hier kann ich einfach alles kaufen. Was will ich denn? Ich will alles. Alles was es gibt. Süßigkeiten, Menschen, Abenteuer, Berge, Gelegenheiten, Klamotten, Diamanten, ein Flug zum Mond, ein Rendezvous mit Michael Fassbender, Klarheit über den Google Algorithmus, Weltfrieden. Was kostet der? Die Stimme aus dem Off sagt, entscheide selbst. Weil Einheitspreise Schwachsinn sind und hier im Kiosk soll kein Schwachsinn sein. Auch keine Schnäppchen. Alles hat seinen Preis.

Wichtig ist noch: dieser Kiosk steht in einem Dorf an der Sieg. Die Sieg ist ein Fluss, keine Errungenschaft. Tritt oft über ihre Ufer und ist als Schwemmlandschaft sehr attraktiv. Wild. Das Unterbewusste vermutet in diesem Ort kein Ding wie diesen Kiosk und kann es deshalb nicht so schnell bagatellisieren. Es fährt sozusagen voll an die Wand. Ein passendes Bild für ein Tal entlang des Gewässers, in dem unzählige Kerzen am Straßenrand brennen, um der Toten zu gedenken, die hier ihr Leben ließen. Wie aus einer zu schnell zirkulierenden Zentrifuge werden sie an die Bäume geschmettert und sterben. Was mich auf den Gedanken bringt, dass hier ein Trauernder sein sprühendes Unwesen treibt. Tränenden Auges sprüht er Gedenken. Nennt es hier Kiosk. Zieht Aufmerksamkeit. Damit alle glauben hier gibt es was.

Ich fahre in die umliegenden Dörfer und finde weitere: Waschsalon, Bar, Parkhaus, Imbiss, Kita, Kino und Blumen.

wäre sie frei

Sie kauert im Keller. Kühl ist es, nicht kalt. Krümmt sich dort im schwarzen Staub wo früher die Kohlen lagen. Du kriegst mich nicht sagt sie. Ich kann sie kaum erkennen. Wer ist sie? Freiheit oder Angst. Wut. Liebe. Konzentriere ich mich auf die Kontur oder mache ich eine Kehrtwende. Keine Chance. Komm raus rufe ich.

wäre sie freiWäre sie die Freiheit würde ich mich freuen. Fast glaube ich sie zu fühlen. Ihr feines Flattern noch fern aber verheißungsvoll. Entfaltet vielleicht ihre Flügel und fliegt mit mir fort. In ein fernes Land das nur in meiner Fantasie funktioniert. Meine Flucht wäre folgenlos.

Wäre sie Angst wollte ich sie nicht. Auch nicht an dem Abend als sie allgegenwärtig ist. Die Angst macht mir angst. Am Anfang ist sie andeutungsweise harmlos, dann wachsen aus der Ahnung lange Schnüre wie von Angeln geworfen und haken sich fest. In einem Ausmaß, das lahm macht. Das einen Ausweg in den Abgrund führt.

Wäre sie Wut würde ich mich wehren. Will mich nicht ihrem Willen beugen. Sie wandert ja schon eine Weile mit mir. Wuchtet sich durchs Wasser wie ein schwerfälliger Wal während ich versuche zu entwischen. Die Wellen werfen mich wieder in die Welt. Noch mehr Wut als die, die ich schon habe, würde mich weichkochen. Widerlichen Wackelpudding aus mir machen. Suche das Weite, Wut.

Wäre sie Liebe finge mein Leben Feuer. Lebendiges Licht. Leuchtende Laterne. Eine lila Flamme wie in diesen Lampen aus längst verlorenen Legenden. Ich lenkte sie langsam aus dem Staub in ein liebliches Land. Die Leute lachen wenn sie die Liebe erblicken. Erinnern sich an Leidenschaft, rosa Luft und verträumte Augenlider. Will sie nicht links liegen lassen. Los! Lieber alles andere verlieren, aber nicht die Liebe.

Ich nähere mich der schwarzen Gestalt. Es ist nur ein Schatten.

Wieder im Käfig gelandet

KäfigGegen das Licht sieht sie aus wie eine schwarze Lilie. Schößchen aus Stoff in der Taille. Lange gerade Beine und hohe Stiefel wie Trinity in Matrix. Mindestens einsachtzig. Aber die tief stehende Sonne wirft lange Schatten. In Wahrheit und in der Nähe ist sie kaum größer als ich.

Wenn ich mich jetzt nicht irre, ist sie eine Figur aus der Vergangenheit und mein Film ist ein Traum. Ich hätte sie gerne als Freundin gehabt. Sie ist interessant und intelligent. Und schön. Schön wie ich das empfinde, also in dieser androgynen Art des Ausdrucks, in dem Zweifel keimen können wenn man sie zulässt. Ich habe keine. Hatte nie welche.

Als ich klein war bin ich fast gestorben, wenn mich eine andere Kleine abgelehnt hat. Plötzlich nicht mehr mit mir spielen wollte. Kommst du raus? Nein. Habe es nicht verstanden. Verstehe es bis heute nicht. Dieses spontane Sich Abwenden. Diese miese Tour sich über das gewonnene Vertrauen hinwegzusetzen. Ich kann das nicht verwinden. Oder überwinden. Nur den Schmerz fühlen, der sich ein Loch in die Gegenwart bohrt.

In der Nähe sehe ich ihren flackernden Blick. Sie ist nervös und versucht es zu verbergen. Sie ist gefangen in ihren mühevoll konstruierten Konventionen und weiß das, weil sie sich schon früher freiwillig in einen goldenen Käfig eingesperrt hat. Bis zum Ausbruch, der keiner war, sondern ein geordneter Auszug des Vögelchens, das so dringend seine Freiheit sucht und doch wieder im Käfig landet. Aus den Krallen zurück unter die Fittiche. Für eine Zeit, die kurz oder lange dauert. Aber enden wird. Im Käfig gekreuzigt für einen klitzekleinen Gegenwert.

Aber was weiß ich schon. Betrachte sie nur aus der Distanz. Bin nicht drin im Gewimmel. Kenne nicht die Gewissheit ganz dazu zu gehören. Will sie auch nicht. Manche G-Wörter machen mich schwach. Gewissheit. Geborgenheit. Gemeinsamkeit. Mache stark. Gerechtigkeit. Größe. Gier.

So sentimental. Meine Sinne unsicher was sie mir senden. Ich sehne mich. Soviel ist sicher. Nach einer Möglichkeit, deren Wahrscheinlichkeit ich nicht einschätzen kann. Wenn ich aufwache heißt das noch lange nicht, dass da kein Film mehr ist.