Die Frage

Whiskey

An seinem Geburtstag werde ich meinen Vater fragen, was in seinem Leben wichtig war. Das habe ich mir vorgenommen und es könnte sein, dass die Atmosphäre des Familienfests eine Delle davonträgt. Ich werde erst für eine gute Stimmung sorgen und dann werde ich sie nutzen, um die Frage zu stellen, die meine Geschwister und ich seit Jahrzehnten unbeantwortet mit uns tragen. Ich bin die designierte Sprecherin und meine Mission ist nicht, eine Antwort zu erhalten. Unser Vater wird auf diese Frage nichts sagen. Er wird sein Weinglas nehmen und kurz seinen Blick senken. Keine Rede oder Worte werden über seine Lippen kommen. Das war nie so, also warum jetzt. Das erwartet auch niemand. Erwartet wird wohlwollendes Mittrinken und Mitessen und dann gibt es nichts mehr zu sagen. Das nicht Gesagte wird uns fett umhüllen wie Kantinengeruch nach der Mittagspause. So ist es immer.

Die Vergangenheit

Der Einzige, von dem ich etwas über die Vergangenheit wissen will, ist mein Vater. Es gibt so viele Fragen und wenn ich sie stelle, blitze ich ab. Ich bin in den Jahren so häufig abgeblitzt, dass ich nicht einmal mehr geblendet bin von der Ignoranz in Bezug auf mein Interesse. Ich kneife nicht die Augen zusammen. Ich lasse die Demütigung über mich ziehen wie ein Gewitter in der Ferne. Dumpfes Donnergrolles. In mir blitzt es, aber der Donner ist weiter weg. Ich entlade ihn nicht. Ich schicke ihn weg. Wahrscheinlich gibt es schon ein schwarzes Loch von meinen weggeleiteten Schallwellen.

Das Misstrauen

Es ist keine schwierige Frage. Keine indiskrete oder intime Frage. Es ist auch keine Frage zu meiner Kindheit oder der meiner Geschwister. Es ist eine Frage zu seiner Kindheit. Wir wollen wissen, wo er war. Wann Sachen waren. Wir wollen ihn kennen. Denn er ist zwar unser Vater, aber wir wissen nichts über ihn. Wir kennen nur seine kalte Schulter. Seine Gleichgültigkeit und sein Misstrauen gegenüber unserer Existenz. Die Gleichgültigkeit ist leichter zu ertragen als das Misstrauen. Das Misstrauen leiert nicht aus. Nicht einen Millimeter. Warum den eigenen Kindern misstrauen? Das ist die große Frage. Sie wird auch nicht beantwortet werden, weil sie eine Unterstellung in sich trägt. Man kann nicht mit Misstrauen kommen, wenn der Andere misstraut. Das funktioniert nicht. Ich weiß das und meine Geschwister wissen das auch.

Der Geburtstag

Wir haben diesen Geburtstag gewählt, weil es dann Zeit ist. Vielleicht ein wenig spät, aber die Frage soll endlich den ganzen Raum füllen. Ich werde also in meinem Kleid und mit dem Glas in der Hand die Frage stellen und ich werde sie vorher so lange üben, bis meine Stimme geschmeidig klingt wie die einer Nachrichtensprecherin. Ich werde diesen Auftrag mit Würde ausführen. Ich werde für alle sprechen und ich werde ein wenig an meinem Vater vorbeisehen, wenn ich die Worte spreche. Sie sollen ihn nicht treffen, sondern die Luft streifen und dann den atmosphärischen Gesetzen folgen oder was auch immer. Ich werde nicht nachhaken, sondern mein Glas lehren und mich wieder setzen. Warten, dass der Geräuschpegel wieder auf Normal geht und dann meine Geschwister ansehen und die Trauer in ihren Augen erkennen.

Machandel Kranewit

Machandel Kranewit

In diesen Regentagen, die sich ziehen wie Regenjahre, denke ich an den Satz, der vor einer halben Ewigkeit in Hundert Jahre Einsamkeit meine Aufmerksamkeit gefesselt hat: „Es regnete vier Jahre, elf Monate und zwei Tage.“ Königswinter ist nicht Macondo und wahrscheinlich hört es zu regnen auf bevor vier Jahre um sind und sich dunkelgrüne Krautschichten und Moos auf meiner Dachterrasse gebildet haben.

Meine artenarme Pflanzengesellschaft wurde durch den einzigen Nachtfrost im Winter um zwei geliebte Gefährtinnen reduziert – Wisteria, süß duftender Blauregen, der eigentlich als winterhart gilt und die echte Mispel, einzige Vertreterin der Rosaceen-Gattung Mespilus. Der Gemeine Wacholder, ich nenne meinen Liebling zärtlich Machandel Kranewit, hat es glücklicherweise geschafft; er kann immerhin bis zu 2.000 Jahre alt werden und seine Beeren helfen gegen die Pest, falls diese nochmal akut werden sollte.

In einigen Bergregionen der Schweiz wird aus den Beeren mit „seit Menschengedenken mündlich überlieferten Rezepten“ ein Brotaufstrich zusammengerührt – eine poetische Wikipediaformulierung für einen so mystischen und quellenfremden Sachverhalt. Ich verwende weder die Beeren noch das dauerhafte und elastische Holz, das gut für Schnitz- und Drechslerarbeiten geeignet wäre. Meine Familie rollt immer mit den Augen, wenn ich von den Faszinosi der Pflanzen spreche, aber das ist mir egal, Hauptsache, die nachfolgenden Generationen kümmern sich um den Wacholder.

Die Pflanzengesellschaft ist also um zwei Arten ärmer und außerdem sehr empfindlich. Das Mikroklima unter ihnen hängt entscheidend davon ab, wie ich sie gruppiere. Unterm Jahr umgestellt werden, mögen sie nicht und sie hassen neue Nachbarn. Sie verweigern ihren Blättern die Wasserzufuhr, wenn ich statt des gestandenen Regenwassers Frischwasser aus dem Schlauch nehme. Ihre Bereitschaft zu wachsen machen sie davon abhängig, wie viel Zuwendung ich ihnen schenke und dass ich sie nicht alle gleich behandle. Sie sind eigentlich keine Gesellschaft, sondern eine Schar trotziger und launiger Kinder. Meine frostgefährdete Dachterrasse, die regelmäßig von stürmischen Südwestwinden und ungeschützten Regengüssen heimgesucht wird, in heißen Sommern eine trockene Wüstenatmosphäre aufbaut und deren Holz nachts knackt, macht das schwierige Terrain nicht leichter.

Heute Morgen gibt es einen Sonnenaufgang. Für später ist Regen angesagt.

Hase

Osterhase grün mit weißen Punkten

Heute bin ich einem Hasen gefolgt. Im Gebüsch war eine Hasengruppe, die Ostereier angemalt hat.
Echt jetzt.

Ich fahre mit dem Fahrrad am Rhein entlang und sehe überall diese weißen Puschelschwänze. Lache laut. Spaziergänger gucken mich an, ich zeige auf die Hasen.
Seht Ihr sie nicht?

Die Hasen sprechen. Kein Scheiß. Und ich kann die verstehen. Die diskutieren wie Designerinnen über Muster und Farben. Sie sind nicht wie normale Hasen einfach in Hasenfell gehüllt. Das sind glaube ich Modelhasen.
Hihi kicher kicher.

Eines der Hasenmädchen hat sich das Hasenfell grün gefärbt, damit man sie auf der Wiese nicht sieht. Die anderen sind bunt wie angemalte Eier, manche marmoriert. Seid ihr nur an Ostern so bunt, frage ich die blödeste aller Fragen. Hihi, kichern die Hasen.
Was ist denn Ostern? fragen sie.

Äh. Ich erkläre das dann mit Jesus. Sie kreischen wegen dem Blut. Des Bluts. Ich erzähle, wie der erst tot war und dann wieder nicht.
Wie jetzt? Jesus war nicht tot?

Ojeee. Jetzt kommt die Zombienummer. So reagieren alle, die die Geschichte mit Jesus nicht draufhaben. Falsch, diese Hasen sind cool. Und voll altmodisch. Weil die nämlich nicht im Internet sind. Hot Spots würden die killen. Sie kennen nicht einmal Fernsehen.
Und jetzt?

Ich sage zu ihnen, ihr seid It-Hasen, oder? Hä? Dann suche ich die versteckte Kamera. Aber ich finde keine. Die Hasen bieten mir einen Holunderschnaps an, den haben sie selbstgebrannt. Nachts heimlich am Rheinufer in der Tonne.
Die sind so süüüß.

Okay, zum Schluss sage ich das noch von dem rosa Bunnyhäschen. Das rosa Bunnyhäschen ist das liebste und süßeste von allen. Es ist so liebenswert, dass es sogar lange Wimpern hat. Ich bin von seiner Rosaheit schier geblendet.
Crazy.

Wenn ihr alle jetzt mich und die Hasen sehen könnten, das wäre so krass. Aber ihr dürft nicht gucken, weil wir verstecken zusammen die Eier. Ich kann mein Glück gar nicht fassen, dass die mich mitmachen lassen.
Frohe Ostern.

Ich geh` mal mit dem Hund raus

Hund Blog Substanz

Seit Jahren habe ich keinen Hund. Er beziehungsweise sie war schnell tot. Ein kurzes Hundeleben. Ich soll die Hütte (Die Hütte) lesen hat einer zu mir gesagt. Ich denke an Hundehütte, aber es gibt keine. Mein Hund hat bei mir im Haus gewohnt. Wir haben im gleichen Zimmer geschlafen. So ähnliche Frühstücksflocken gefressen. Jetzt habe ich eine Milch- und Weizenallergie, außerdem jucken mich Hundehaare.

Der Tod kam als Stock. Der Hund tollt im Wald und spießt sich den Ast in die Kehle. Blut spritzt ins Fell und das Tier stirbt. Ich stehe daneben und mein Herz pocht. Danach lebe ich ohne Hund. Das ist erst ungewohnt und dann gewöhne ich mich nicht. Erwäge mögliche andere Tiere oder Gefährten. War mir der Hund eine Gefährtin? Soweit würde ich nicht gehen, obwohl. Ich denke an die Frau hinter der Wand (Die Wand), an ihren Hund und an ihren Blick, als er nicht mehr da war. So bin ich nicht. Ich gehe auch ohne ein Tier in den Wald. Warum ein zusätzliches Tier in die Wildnis führen, wenn es hier doch viele gibt, die nicht gefüttert werden. Die so einen unbeschwerten Menschbegleiter mit Verachtung betrachten, weil er sein Futter nicht selbst reißt. Aber das ist menschliche Interpretation eines Tiergehirns. Ich liege wahrscheinlich daneben oder völlig falsch. Ich kann ja nicht einmal abschätzen, ob die Boshaftigkeit meines Nachbarn, der im Dorf erzählt, ich würde meine Mülleimer nicht rausstellen, nicht vielleicht Sorge ist, dass sich in meinen Tonnen ein aus Schimmel und Zersetzung stinkendes Giftgas bildet, das in Richtung seiner Terrasse schwelt.

Die Denke von Tieren ist eine eigene Welt. Gemessen am menschlichen Gehirn einfach gestrickt. Futter und Fortpflanzung. Oder doch nicht so unähnlich? Aber zurück zu meinem Nicht_Hund. Die Jahre ohne sie sind wie ein Vakuum in meiner Erlebniswelt. Immer, wenn ich einen schönen Graben sehe, denke ich, das wäre jetzt ein Graben für den Hund. Wenn ich einen spitzen Stock sehe, denke ich, so einer hat sie umgebracht. Würde sie diese Frühstücksflocken mögen?

Alles geschieht in Relation zu einem toten Hund. Der Nicht_Hund_Zustand ist fast so real wie die Mit_Hund_Situation. Der Hund ist nicht und doch anwesend. Die Dichte der Materie ist nicht so dicht, dass ich sie sehen könnte. Ist in dem Körbchen nicht eine Delle im Kissen? Ein Abdruck des Körpers und ein schwacher Geruch nach nassem Fell? Die Wirklichkeit ist ein schmaler Weg. Ich meine, warum hat sie damals genau den Weg genommen, wo dieser Stock steckte? Nur Zentimeter weiter links oder rechts wäre nichts passiert. Keine tödliche Hautaufritzung. Wollte sie den Stab bezwingen oder hat sie ihn in seiner Spießfähigkeit unterschätzt? Hat sie ihn überhaupt wahrgenommen oder waren ihre Augen ganz woanders?

Würde ein neuer Hund meine Haltung verändern? Ich möchte keinen neuen Hund, das wäre als würde ich Hunde konsumieren. Ihr alter ist tot? Holen Sie sich einen neuen. Im Tierheim zum Beispiel. Da wartet er schon. Darauf, dass ich mit ihm in den Wald gehe.

Das Richtige tun

Doing the Right Thing

Tu es! schreit mein Gehirn. Oh look, mein Gehirn, das habe ich ja schon lange nicht mehr gehört. Wo warst du? frage ich fast sehnsüchtig. Es war im ontologischen Raum gefangen, hat sinnlose Sinnfragen gestellt und Zeit verschwendet. Zögernd wende ich ein, Zeit kann nicht verschwendet werden, sie vergeht einfach, so oder so. Ich finde es gut, dass die Zeit vergeht. Sie tut es einfach und die Menschen, denen Zeit so wichtig ist, wehklagen und stöhnen ob Ihrer Vergänglichkeit. Ich nicht. Nach meiner Meinung kann Zeit nicht schnell genug vergehen. Schnell durch die irdische Scheiße. Dann wieder reine Materie sein ohne diese falsche Bescheidenheit oder das Charitygedöns gegenüber Flüchtlingen oder Mitleid mit dem Flüchtigen.

Tu was? frage ich zurück. Na das Richtige! blafft es. Ich hatte es glatt vergessen, mein Gehirn. Es ist ja eigentlich das Einzige, das mir widerspricht, oder? Anfangs ärgerlich, dann befriedigt ziehe ich einen Mehrwert aus dem Widerspruch. Mein Gehirn ist kein Ja-Sager. Ich bin wirklich glücklich darüber. So ein kleines widerspenstiges Gekräusel, das sich querstellt, wenn ich denke. Eine virtuelle Geschwulst. Wäre sie echt, hätte ich vielleicht Schmerzen und/oder nicht mehr lange zu leben. Dann würde ich mich damit auseinandersetzen müssen, wie ich es meinen Kindern sage. Das wäre das Schwierigste. Ich könnte ihnen sagen, dass mich der Tod nicht schreckt. Aber das wäre schwer für sie zu verstehen. Sie sind so jung und auch wenn ich nicht alt bin oder mich alt fühle, für mich ist der Tod eine Option. Immer gewesen. Bei allem, was ich tue und wenn mein Gehirn schreit: Tu es nicht! Bei starkem Wind an der Kante eines Abgrunds stehen zum Beispiel.

Tu es! brüllt es jetzt. Ja was denn? gelle ich zurück. Warum geht es so hart mit mir ins Gericht? Was will es von mir? Tu das Richtige! schreit es. Was ist das Richtige? Diese Frage wird mir mein Gehirn nicht beantworten. Es hat ein Stadium erreicht, in dem es die Entscheidungen mir überlässt. Es hat sich emanzipiert. Das weiß ich zu schätzen, denn so ein Reinreden aus Prinzip ist nervig. Immer gewesen. Wenn es sich jetzt so vehement meldet, muss ich tierisch etwas versemmeln. So würde mein Sohn sagen: versemmeln. Versemmeln heißt: Nicht das Richtige tun.

Das Richtige ist greifbar nah. Es steht vor mir und lacht. Es lacht mich aus, weil ich es nicht gleich sehe. Durch es hindurch sehe. Ich sehe durch das Richtige das Falsche. Das Falsche scheint das Richtige, bis das Richtige einen Schritt zur Seite macht und ich das Falsche erkenne. Das Falsche sieht nicht echt aus. Daran erkenne ich es und lasse es links liegen. Dann wende ich mich dem Richtigen zu.

So einfach kann es sein.