Das letzte Mal

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Heilt Zeit Wunden? Meine nicht. Die von meiner Nachbarin auch nicht. Ihre Tochter ist vor neun Jahren verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Vielleicht ist diese Wunde zu groß. Ein klaffender und pulsierender Spalt, an dessen Grund ein reißender Bach scharfkantiges Geröll rollt. Scharfkantig hat nichts mit Kant zu tun. Würden kantische Prinzipien wirken, wäre all das nicht passiert. Seit neun Jahren steht jeden Abend eine Kerze im Fenster. Im Dorf stehen Kerzen dort, wo das Mädchen das letzte Mal gesehen wurde. Sie ist fast so lange weg wie sie da war, doch das Nicht-da-Sein wiegt um Jahrhunderte schwerer. Das Mädchen ist jung geblieben und wir zurück Gebliebenen sind grau geworden. Grau vor Gram.

Begegne ich meiner Nachbarin, sehe ich den Schmerz in ihrem Blick. Er ist immer da, auch wenn sie lächelt. Am Schmerz verfängt sich Rastlosigkeit wie eine Schnur an Stacheldraht. Die Schnur sieht aus wie Pferdehaare, blond, drahtig. Blond ist auch das Kind. Die Rastlosigkeit kommt von der Suche nach dem Ort, wo die Verschwundene sein kann. Es ist kein Gucken nach einem Grab. Es ist eine Ausschau nach Anhaltspunkten, die sich vielleicht verdichten. Warum aus einem so gewaltigen Wunsch keine Materie wird, ist mir schleierhaft.

Zu meinem Schmerz gesellt sich stille Verwunderung. Nie stellt meine Nachbarin die Frage nach dem Sinn oder nach Schuld. Sinn und Schuld spielen in ihrem Leben keine Rolle. Es hieße nach Erklärungen zu suchen, die das Verschwinden verkleinern bis hin zum Vergessen. Es geschieht, dass sie einige Stunden nicht daran denkt und dann ist der Schreck so groß wie der erste, als das Kind nicht nach Hause kommt. Ein Schlund, ein schwarzes Loch, das alles – auch die Zeit – verschlingt. Zeit kann keine Wunden heilen, denn sie kommt gar nicht in Kontakt mit ihnen.

Winken wie die Queen

Queen of England Portrait

Der Nachmittag flimmert in den Abend. Wir atmen Mückenschwärme ein, verscheuchen wilde Wespen, sehen Kakerlaken am Hausputz knabbern und Fliegen fliegen. Das faulige Obst tropft süß auf den Boden. Der Spätsommer kocht saftige Suppe und presst das Leben aus den Leibern. Wir lecken es auf. Ein Überfluss an Süßem. Das Zuviel an Zucker, das sich in Fett wandelt für den Winter. Fette Welt.

Auf der anderen Straßenseite magere Welt. Dürre im Vorgarten. Gibt es hier kein Wasser oder wer kümmert sich eigentlich? Habe ich einen Garten, dann muss ich auch gießen. Ein Zettel im Briefkasten von der besorgten Nachbarschaft. Worum sorgt sie sich? Dass die Dürre doof aussieht oder dass ein Mangel herrscht? Zwischen den Zeilen ist das Doofe. Es ist doch nur ein Vorgarten, ein Stück Land an der Straße. Der richtige Garten ist hinten mit Tomaten, Stangenbohnen und Zwiebeln. Die werden gegossen und gegessen. Von einer Familie, die sich nicht um den Vorgarten oder um ihr Ansehen schert. Aber arglos ist hier niemand. Immer liegt etwas Uneinschätzbares, tendenziell Bedrohliches in der Luft.

Unsere zwei Welten werden nur von einer Straße getrennt. Wir winken manchmal hinüber, aber nie winkt jemand zurück. Wir blicken mit dem, sie gegen das Licht. Vielleicht sehen sie uns gar nicht. Wir winken nicht aus niedrigen Beweggründen oder unseres Gewissens wegen. Wir wollen auch kein Gemüse. Unser Winken ist nur eine Kontaktaufnahme. Oder ein Abstandhalten. So könnte man das auch sehen. Winken wie die Queen.

 

So klingt die Natur

Ventilator Chrom

Schon morgens ist es heiß. Die Luft steht wo sie gestern stand. An meinem Schreibtisch. Erst schaut sie mir über die Schultern, dann legt sie sich schwer darauf. Hinter mir ist Alaska, der Ventilator. Alaska verspricht eine kühle Brise, aber das ist nur eine Assoziation. In Wirklichkeit wirbelt er warmen Wind umher und ein paar lose Blätter Papier.

Im Raum ist ein surrender Ton. Klingen so die Bienenwiesen in Alaska? Ein junger Forscher hat vier Jahre lang die Geräusche der Wildnis aufgenommen, ein Biologe mit Bart. Er präsentiert die Geräusche wie ein Geschenk. Es sind Insekten, Vögel und Bären zu hören. Die Bären kratzen am getarnten Mikrofon und sabbern es voll. Ein lustiges Scharren und Schlecken. So klingt die Natur, sagt der Forscher. In seinen Augen blitzt ein Schalk, denn er weiß natürlich, dass es in der freien Wildbahn normalerweise keine Mikrofone gibt. Also stimmt dann seine These, dass die Aufnahmen so sind als wären keine Menschen anwesend? Geben alle, die da normalerweise über die Wiese gehen, völlig unbefangen ihre Geräusche von sich? Der Forscher nickt. Er sagt, das Mikrofon ist wie ein Busch. Außer dass es Laute aufzeichnet.

Mit letzter Gewissheit könne man natürlich nicht sagen, ob die Anwesenheit eines Mikros für die Geräuschemacher so ist als wäre es nicht da. Für den Wind trifft das zum Beispiel nicht zu. Der bricht sich am Gerät und pfeift. In freier Fahrt würde er wahrscheinlich ganz anders klingen. Oder gar nicht. Oder nicht für menschliche Ohren wahrnehmbar. Oder nicht mit menschlicher Technik aufnehmbar.

Der Biologe streicht nervös seinen Bart. Das sind einige thesenfeindliche Umstände, die eventuell seine Doktorarbeit gefährden könnten. Vielleicht sollt er den Titel ändern. Die vier Jahre Geräusche will er nicht in den Wind schreiben. Ausgerechnet der Wind. Damit hat er nicht gerechnet. Ein Tier schon, weil es da um Intelligenz, Aufmerksamkeit und Neugier geht – aber der Wind?

Jetzt am Nachmittag habe ich mich an die Hitze gewöhnt. Alaska ist heißgelaufen und ich stelle ihn ab. Endlich Ruhe.

 

Leander Leichtsinn

Lange habe ich über den Leichtsinn gelacht. Ihn nicht ernst genommen. Seine pfauenartige Präsenz ignoriert. Ihn spöttisch Leander Leichtsinn genannt.

Und was macht er? Bedankt sich für diesen albernen Namen. Verbeugt sich eitel, zieht sich in einen Winkel zurück und wartet auf seinen nächsten Einsatz. Ich frage mich, von wem er den Befehl erhält. Wahrscheinlich von meinem Gehirn, entweder auf Diva- oder auf Stromsparmodus.

Die Diva lässt Leander freies Geleit. Im Galopp lässt er die Gefahr links liegen. Ist nur auf Gewinnen gepolt. Plustert sich auf und wirft die Federboa um seinen Gockelhals, wenn wieder einmal alles gut gegangen ist.

Im Stromspar vergisst er einfach zu denken. Hat keine Power für potentielle Patscher. Im Endeffekt geben sich Diva und Stromspar die Hand und grinsen unverschämt.

Leichtsinn ist nicht der Mangel an Logik. Leichtsinn ist schneller und ohne Kummer. Schwerelos für einen kurzen Moment, in dem alles andere möglich ist – ein Sturz, ein Fall, ein Tod. Der flüchtige* Augenblick, in dem der Leichtsinn das Zögern verhindert und den Sinn in einen Hauch von Nichts hüllt. So schwebt er als Schwert, wie manche sagen. Ich habe dieses Schwert noch nie gesehen.

Mit Leichtsinn fordere ich das Leben heraus, mache es kurzweilig, luftig und liebenswert. Wer will schon ein langes Leben? Leander lacht, als ich das sage.

 

*Dieser Beitrag ist Teil der Ausstellung “flüchtig” im Pumpwerk Siegburg vom 13.8.-23.9.2016

Stockrosen und Schildkröten

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Ein Dankeschön an tikerscherk für die freundliche Nominierung zum Liebster Award –
ich habe die Fragen in den Ferien neu gemischt und mir einige herausgepickt. Mögen die Antworten ein helles Licht auf mich werfen oder zu Brotkrumen werden, von Möwen gefressen.

Schildkröte11 Fragen

  1. Meine Liebsten im Leben?
  2. Was möchte ich sein?
  3. Wo möchte ich leben?
  4. Was ist für mich das vollkommene irdische Glück?
  5. Was ist für mich das größte Unglück?
  6. Welche Eigenschaften schätze ich bei einer Frau am meisten?
  7. Meine wichtigste Lehrmeisterin?
  8. Welche Eigenschaften schätze ich bei einem Mann am meisten?
  9. Welche Fehler entschuldige ich am ehesten?
  10. Welche Erfindung bewundere ich am meisten?
  11. Welche natürliche Gabe möchte ich besitzen?

 

1. Die Liebsten?

Meine Liebe geht zu Rot, Stockrosen, Schildkröten, Wölfen, Karen Duve und Elfriede Jelinek, Der Herr der Ringe, Matrix, Langstreckenlauf, Mars, Käsekuchen, Aprikosen, Spinat und Walnüssen.

Hummer2. Was möchte ich sein?

Im Film „The Lobster“ (empfehlenswert) dürfen Menschen, die innerhalb einer kurzen Frist keinen Partner finden, sich wünschen, in welches Tier sie dann verwandelt werden möchten. Die meisten Menschen sagen „Hund“; das erklärt, warum es bei uns so viele Hunde gibt. Ich selbst würde “Schildkröte” sagen.

3. Wo möchte ich leben?

PerlenIn einem freien Land möchte ich leben, also in Illusorien.

4. Was ist für mich das vollkommene irdische Glück?

Klitzekleine irdische Wonnemomente, Perlen im Alltag, ein Lächeln, ein offener Blick.

5. Was ist für mich das größte Unglück?

EinsamkeitDas Unglück der anderen ist stets größer als meines und kommt mit Verzweiflung, Verletzung, Elend und Einsamkeit. „Nie kommt das Unglück ohne sein Gefolge.“ Heinrich Heine. Will ich mir mein größtes Unglück vorstellen? Nein.

6. Welche Eigenschaften schätze ich bei einer Frau am meisten?

Autonomie.

7. Meine wichtigste Lehrmeisterin?

SchöllkrautMeine Tante Jenny in Sachen Pflanzenbestimmung, meine Mutter in der Tradition des Backens und des Gemüseanbaus, Simone de Beauvoir im Bereich Verortung im System und Albert Einstein für den relativen Blick ins Universum.

8. Welche Eigenschaften schätze ich bei einem Mann am meisten?

Mut

9. Welche Fehler entschuldige ich am ehesten?

Mittlerweile alle. Fehler sind eine Erfindung von Macht, um Sandkörner aus dem System zu sieben.

10. Welche Erfindung bewundere ich am meisten?

Die Erfindung von Geld.

11. Welche natürliche Gabe möchte ich besitzen?

Fliegen wäre schön, obwohl das in manchen Träumen schon gelingt. Natürlich wäre auch die Gabe der Genügsamkeit ein Geschenk … an ihrer Ausprägung kann ich vielleicht zusammen mit Geduld, Gelassenheit und Demut noch arbeiten.

 

Ich nominiere die folgenden von mir geschätzten Bloggerinnen und Blogger. Meine 11 Fragen gebe ich an euch weiter.

Drittgedanke
elementares lesen
orangeblau
Emily´s Blog
mannigfaltiges
teamo comics
Gescheuchten Igel
Piksyn
Spielkind
Leo´s Literarische Landkarten

liebsterawardsticker
Man kann ihn mögen oder auch nicht. Er ist und bleibt eine gute Gelegenheit, auf neue und/oder unbekannte Blogs aufmerksam zu machen.
Die Regeln, wie ich sie kenne:
Danke der Person die Dich für den Liebster-Award nominiert hat und verlinke ihren Blog in Deinem Beitrag.

Beantworte die 11 Fragen, die Dir die Blogger/in, die dich nominiert hat, stellt.

Nominiere mind. 3 max. 11 weitere Blogger/innen für den Liebster Blog Award

Stelle eine neue Liste mit 11 Fragen für deine nominierten Blogger/innen zusammen.

Informiere deine nominierten Blogger/innen über den Blog Artikel.

Schreibe diese Regeln in deinen Liebster-Award Blog Artikel.