Der Unterschied zwischen mir und der Maus

Maus

Das Zauberwort heißt Epigenetik und ist eigentlich ein Fluch … finde ich, die ich froh durchs Leben gehe und an den Anachronismus glaube, dass mein Genom sich zu meinen Lebzeiten nicht ändert. Es ändert sich sehr wohl und so kann mein Trauma in das meiner Tochter schlüpfen und dort weiter wüten ohne dass sie weiß, was eigentlich los ist. Mein Trauma ist das Trauma meiner Mutter und bahnt sich weiter seine Spur.

Aus früheren Gefechten sind tiefe Gräben in den Genen. Es ist eine Geschichte von vor dem Krieg Geflohener. Flüchtlinge. Vertriebene. Heimatlose auf den Straßen, dann in Lagern und Heimen. Kinder mit geschorenen Haaren, auch Mädchen wie meine Mutter. Läuse. Kälte. Erschöpfung. Das grausame Lachen der Leute, die eine andere Sprache sprechen.

Epigenetische Erkenntnisse stammen aus Experimenten mit Mäusen. Man hat die Muttermäuse traumatisiert und beobachtet, wie ihre Jungen trübe in der Ecke bleiben. Man hat die Elternmäuse gemästet und bemerkt, dass die Mäusekinder mollig sind, auch wenn sie gar nicht mit ihren Eltern aufwachsen.

Bevor ich verstehe, dass mein Muster ein Vermächtnis ist, schnitze ich es weiter. Wie werde ich das Messer los? Wann wiegt mein Leben ein einschneidendes Erlebnis auf, das ich gar nicht selbst erlebt habe? Das unter dem Deckmäntelchen sitzt? Scheint mir ein schwieriges Unterfangen zu sein. Jeden Tag schicke ich die, die sich zuerst bei mir melden, wieder weg. Scham. Häme. Wut. Schwäche. Halte Ausschau nach Mut, Heiterkeit und Zuversicht. Es muss einen Unterschied geben zwischen mir und der Maus.

Also gebe ich mein Bestes. Bleibe nicht in der Ecke. Wehre mich gegen die Bürde. Laufe mich schlank und aktiviere Antimaterie. Andere sind im Moment die Flüchtigen. Fluchträger. Sie brauchen ganze Wagenladungen voll Glück, Güte und guter Nachbarschaft. Wie epigenetischer Widerstand aufgebaut wird, wurde an Mäusen noch nicht ausprobiert…

Zwei ist der Anfang vom Ende*

Peter Pan grünes Auge blaues Auge

Peter, den ich seit meiner Jugend nicht mehr gesehen habe und wahrscheinlich nie mehr sehen werde, bleibt auf immer jung. In meiner Erinnerung hat er das glatte Gesicht mit den aufmerksamen Augen, eins blau eins grün, die nie eine Sekunde lang still stehen. Wie ein Kolibri schwirrt sein Blick. Vibriert in der Luft. Driftet weiter zu einem neuen Duft. Ein Geruch von Gedanken, die sich in der Bewegung neu ordnen und Muster machen wie Blütenstaub im Wind.

Längst nenne ich ihn Peter Pan, wie den einen, der niemals erwachsen wird. Damals mag ich seinen Namen nicht, weil er hart klingt und rau. Seine Mutter „war eine schöne Frau mit romantischen Gedanken und einem wunderbar spöttischen Mund. Ihre romantischen Gedanken waren wie kleine Schachteln aus dem geheimnisvollen Orient, eine Schachtel nach der anderen, und wie viele man auch entdecken mag, immer steckt noch eine darin.“* Das mit den Gedanken hat er von ihr, winzigen Vögeln gleich auf der Suche nach Nektar. Er trinkt neue Ideen wie seine Mutter Schachteln leert. Eine Familienangelegenheit.

Wir haben uns aus den Augen verloren wie man sich so aus den Augen verliert, wenn man erwachsen wird und das so genannte eigene Leben beginnt. Seit dem Zeitpunkt unserer Trennung sind wir unsterblich. Ich bleibe jung und er bleibt jung. In unserer beider Erinnerungen leben wir ein Leben in Heuwiesen, Birkenhainen und Quellwassern. Dort wo wir lachen und träumen und in andere Rollen schlüpfen. Wo wir Vogelstimmen imitieren, bis sie über unseren Köpfen kreisen. Es ist ein zweites Leben, das nicht endet. Vielleicht endet es, wenn wir sterben oder geht es einfach weiter, denn es war ja auch vorher nicht unseres. Wohin verschwinden die Gedankenschachteln, wenn wir die Gedanken nicht mehr denken? Zurück in den Orient?

Wären wir wieder vereint, wäre das verheerend. Wir würden auf einen Schlag unser zweites Leben verlieren. Ein Leben zu zweit wäre der Anfang vom Ende.

*(Zitate) Peter Pan, James M. Barrie, Hamburg 1988

Süßer Filz

Schokopralinen aus Filz
Schokopralinen aus Filz

Habe mein Trampolin auf die Terasse gestellt weil morgen der Frühling kommt. Einfach nur hüpfen, oder? Das Gehirn im Frühling – eine Reise wert. Die düsteren Farben dominieren, was ist schon ein leuchtend rosa blühender Pfirsichbaum auf einem schwarzen Schieferfeld? Eine Wonne gerade wegen des dunklen Hintergrunds.

Auch Frühlingsanfang: Im Wald viele Zitronenfalter auf der vergeblichen Suche nach Zitronenbäumen.

Meine zwei Blogs überfordern mein Gehirn, es bringt die Rollen durcheinander. Zitiert Klassik statt Moderne. Heute wieder gefacetimed. Das wird die Zukunft des Telefonierens sein. Mir kam es vor wie interaktives Fernsehen. Doof, wenn die anderen mich sehen.

Bin krank. Unentschlossen. Was macht das Gehirn wenn der Kopf schmerzt? Manchmal geht mir die symbiotische Anhänglichkeit meines Gehirns ganz schön auf die Nerven. Alles will es gemeinsam machen, alles wissen. Ich bin auf Symmetrie getrimmt und finde immer etwas. Wenn nicht, denke ich mir was aus. Kann ich vor meinem Gehirn ein Geheimnis haben? Stoße ich jetzt mal an meine Grenzen? Ein Ponyhof für die Vorstellung von einem in die Grenzen gewiesenen Gehirn.

So mit dem Gehirn beschäftigt, dass ich vergesse über es zu schreiben. Es hätte mich erinnern können, oder? Eine gute Entscheidung, dem Gehirn kein männliches oder weibliches grammatikalisches Geschlecht zu geben. Es bleibt es.

Die Symbiose von Musik und Literatur ist immer wieder ein Erlebnis. Die grauen Zellen tanzen. Monk. Jazz. Dyers. Beautiful. Musik und Sprache sind Syntax und in beiden Hirnhälften angesiedelt. Diese Gemeinsamkeit macht mich glücklich.

Solange sich die Hirnforschung noch als Leitwissenschaft fühlt (!) gebe ich meinem Gehirn eine Chance. Wer sein Gehirn quälen möchte serviere ihm Reiseis. Es schiebt den Ekel voll auf die Geschmacksnerven. Die Pralinen sind aus Filz.

Ich fotografiere Muster in der Natur, mein Gehirn hilft mir sie zu finden. Ein toter Plastikvogel.

Im Album finde ich ein Schaffoto. Nein das ist nicht meine Familie.

Mein Gehirn verweigert mir vehement die Erinnerung an seine Kindheit. Stimmt nicht. Schon früher mochte mein kleines Gehirn gerne Musterkataloge für Farbmischungen, Tapeten und Stoffe.

Das Unbewusste lügt nicht sagt der Kernspintomograf, aber wen interessieren diese Facts außer der Maschine?

Brauche weder Herr noch Haus, mein Gehirn aber schon. Bio oder konventionelle Vita, das ist wie Apple oder Microsoft keine rationale Entscheidung, sondern eine gesunde. Ein Dopaminbonbon als Anerkennung für dein Wohlverhalten. Du bist süchtig danach, stimmt´s?

Beerenhunger

Ich sage zu Anna den Regen finde ich nicht schlimm, er lässt die Bäche sprudeln und die Blätter glänzen. 

Anna nickt. Auf der Obstwiese pflücken wir Pflaumen, die sind so reif, dass sie schon von weitem duften. Unter der Glocke aus reifen Früchten hören wir die Tropfen aufschlagen wie kleine Steinchen auf Dachpappe, dumpf. Sie perlen grün auf die Wiese. Tak tak tak.

Die süße Schwere klebt an unseren Fingern, unsere Lippen von honigfarbenem Saft benetzt. Ist das Naturkosmetik fragt Anna vergnügt. Die Wespen summen, der Schimmel scheint sich vor unseren Augen zu feinen Netzkostümen zu verästeln. Weiße Muster auf dunkellila Zwetschgenhaut. Niemand ist hier für die Ernte. Im Frühjahr blühen die Bäume, dann kommen die Bienen und nun hängt das Obst blau bis zum Gras. Keinen kümmert es. Außer uns natürlich und die anderen heimlichen Besucherinnen, von denen wir nichts wissen, aber ihre Spuren auf dem Boden sehen. Sie sind zu anderen Zeiten hier als wir. Mit geblähten Bäuchen machen wir uns auf den Weg, sehen die kleinen wilden Erdbeeren am Ufer und lassen sie stehen.

abgefahren

Ein alter Zug fährt durch einen alten Wald. Ein Laubwald bei Linz. Buchen, Erlen, Ulmen, Eichen. Die Schienen führen durch Schluchten und auf den Schotter spucke ich Kirschkerne. Das Knacken wenn sie landen höre ich nicht weil die Bahn so laut quietscht. Früher ritt hier eine Königin, später war es eine Gräfin im offenen Wagen, der Seidenschal lang im Fahrtwind. Dann kommt die Brauereibesitzerin und baut mitten in die Wildnis einen Laden mit der Aufschrift Colonialwaren. Da hängen die alten Sachen aus ihrer Küche drin. Schöpfkellen, Wasserkrüge und Tonschüsseln. Fünfundzwanzig verrostete Bügeleisen.

Die Brauereibesitzerin ist eine stolze Frau mit einer italienischen Designerküche. Rote Lackflächen und schwarzglitzernde Arbeitsplatten aus Granit. Sie scheucht mich aus ihrem Privatbereich. Mustert mich als wäre ich mittellos.Dabei wollte ich nur mal gucken. Wo sie doch sonst alles eitel zur Schau stellt. Alte Autos, altes Eisen, kalte Öfen. Das sollen die Leute kaufen. Ich nicht. Ich kaufe keinen ausrangierten Krempel von einer gierigen Frau. Das Bier das sie braut ist braun. Helles hat sie auch. Wie die Frau durch die Schankstube schreitet kommt sie mir vor wie eine Colonalistin, haha, genau was sie will. Sie hat hier ihren eigenen kleinen Landstrich annektiert und mit ihrem Tüttelkram markiert. Hat es wohl nicht über den Ozean geschafft. Muss hier auftrumpfen. Am liebsten würde ich ihr ein Bein stellen. Aber ich muss gehen. Der Zug fährt gleich ab.